Wichtig: Online-Service jetzt verfügbar
Update: 23.3.2020 22:50 Uhr: Der Onlinedienst ist jetzt unter www.covidcare.de verfügbar .
(Start des Original-Artikels)
Update: 21.3.2020 12:50 Uhr: Es gibt ein Update zu diesem Blogpost.
Nachdem er meinen letzten Blog-Post gelesen hatte hat mich Prof. Dr. Harald Dormann, Präsident der Deutschen Stiftung Akut- und Notfallmedizin und Chefarzt der Notaufnahme am Klinikum Fürth, kontaktiert und gefragt, ob ich ein Vorhersage-Tool schreiben könnte, mit dem er den zu erwartenden Ansturm aufs Klinikum Fürth durch Covid-19 abschätzen könnte – mit ca. 2-4 Wochen Sichtweite. Und es geht dabei spezifisch um die Zahlen für Stadt und Landkreis Fürth (und nicht auf von Bayern oder Deutschland auf unsere Stadt runtergerechnete Daten, die sind für die lokale Planung ungeeignet, weil in jeder Region die Fallzahlen anders aussehen).
Daraus entstand im Dialog die Idee, ein Software-Tool zu schreiben, das praktisch für alle Landkreise und Städte und sogar ganz Deutschland nutzbar ist. Derartige Werkzeuge für solche Vorhersagen liegen wohl bisher sonst nicht vor oder sind zu kompliziert (?).
Also habe ich mal losgelegt…
VORWORT/DISCLAIMER
Falls Sie sich fragen: Warum kümmert sich ein Klima/Software-Unternehmer um sowas und hat der davon überhaupt Ahnung…? Natürlich bin ich weder Mediziner, noch Krankenhaus-Manager noch Epidemiologe. Aber wir Software-Leute sind es gewohnt Aufgaben aus anderen Bereichen zu verstehen, sonst könnten wir sie nicht mit Programmcode lösen. Wichtig ist, dass wir dabei kompetent angeleitet werden von Leuten, die das Fachwissen mitbringen.
Und dann sagt man mir nach, dass ich ein gutes Gefühl für Zahlen habe. Aus meiner Sicht reicht das aus damit ich versuchen kann, meinen kleinen Beitrag zum Umgang mit der Corona-Krise zu versuchen. Und wenn Sie bei den u.g. Abläufen, Annahmen und Programmierungen einen bessere/andere Lösung kennen, dann freue ich mich auf Ihr kompetentes Feedback (z.B. an @dpaessler auf Twitter)!
OK. Zurück zur Problemstellung…
Einleitung
Der hier vorgestellte (Google Sheets-basierte) Infektions-Fallzahlen-Predictor versucht anhand möglichst weniger Eingangszahlen eine brauchbare Vorhersage der zu erwartenden Fallzahlen und des Ansturms auf die Krankenhäuser in den folgenden 2-4 Wochen zu machen – und zwar auf kommunaler Ebene. Dies wird von den Städten, Kommunen und Krankenhäuser benötigt um für jede Region individuell den zu erwartenden Ansturm vorhersagen zu können, damit die Klinik- und Katastrophenschutz-Organisationen entsprechende Vorlaufzeit haben.
Dabei geht es um das frühzeitige Zurverfügungstellen von Material, Klinikbetten, Intensivbetten, Infrastruktur und insbesondere Personal (medizinisch, logistisch und ggf. auch zur Sicherung).
Ziel ist es, die wichtigsten Schlüsselzahlen/Beobachtungen aus den Erfahrungen auf nationaler/überregionaler Ebene (= große Fallzahlen, gute statistische Basis) auf die kommunale Ebene zu übertragen (=kleine Fallzahlen, schlechte statistische Basis) um für einzelne Kommunen oder kleine Regionen Vorhersagen über den Ansturm auf die Kliniken in den nächsten 1-2 Wochen zu berechnen.
Ausgangsdaten (Ganz Bayern)
Das bayer. Gesundheitsministerium stellt auf seiner Website die jeweils tagesaktuellen kumulierten Zahlen der Kommunen sowie den Verlauf der Neuinfektionen für ganz Bayern dar. Beim Robert-Koch-Institut gibt es eine bessere Darstellung im Dashboard, die auch die historischen Fallzahlen pro Landkreis/Stadt enthält.

Auf Basis dieser landesweiten Daten können wir für ganz Bayern die Wachstumswerte/Verdopplungszeit abschätzen:

Für die weiteren Berechnungen werde ich pessimistisch von 30% täglichem Wachstum (entspricht 2,6 Tage Verdopplungszeit) ausgehen (die Zahlen des Landesamtes wurden für zurückliegende Tage bereits mehrfach nach oben korrigiert).
Ausgangsdaten (Städte und Kommunen)
Die Fallzahlen in den meisten Kommunen sind noch so klein, dass man damit keine Abschätzungen der Wachstumsrate machen kann. Wir müssen also eine vereinfachte Abschätzung machen, indem wir das bayernweite Wachstum auf die einzelnen Landkreise übertragen und von einem streng exponentiellen Wachstum ausgehen – etwas besseres haben wir nicht.
Die bisher kumulierten Fallzahlen für unsere Region sind zwar überschaubar, aber man sieht hier schon, dass Ausgangslage und Dynamik (Wachstumsrate) sehr unterschiedlich sind in den Kommunen und das wir innerhalb Bayerns im Vergleich noch eine relativ niedrige Durchseuchung haben, wir sind also noch relativ “früh” in der Wachstums-Kurve: ACHTUNG: Das sind nur die “Stichproben” von drei Tagen und sehr kleine Zahlen, die genannten Wachstumszahlen pro Kommune sind statistisch nicht belastbar!!!

Es wird also klar: Die Unterschiede sind pro Region sehr groß – und werden dank Lockdown auch so bleiben, weil die Durchmischung der Regionen quasi gestoppt wird für einige Wochen. Damit sind einige Kommunen weiter hinten bzw. weiter vorne auf der exponentiellen Kurve.
Nun brauchen wir ein Vorhersage-Tool für die einzelnen Landkreise/Städte.
Schritt 1: Vorhersage der Infektionszahlen
Jetzt haben wir einige Ausgangsgrößen als Annahmen und können uns an eine Vorhersage über den weiteren Verlauf der “Fälle” machen – im Endeffekt eine ganz einfache Mathe-Übung: Exponentielles Wachstum!
- Wir steigern die Anzahl der Fälle von den letzten vorliegenden Fallzahlen pro Landkreis/Stadt um 30% jeden Tag
- Ab einem Stichtag fängt der Lockdown an zu wirken und die Anzahl der Neuerkankungen sinkt (nachdem der Lockdown bei uns in Bayern nun endlich morgen startet, nehmen wir mal den 5.4.2020 in 14 Tagen, weil wir erwarten, dass ab dann die Neuinfektionen langsamer wachsen werden).
- Um das vereinfacht zu modellieren bremsen wir das letzte frei-exponentielle Tages-Wachstum stückweise um 20% jeden Tag bis die Fallzahl schließlich konstant bleibt (TODO: sind diese 20% realistisch? Gibt es genauere “Bremsfunktion”? Bin für Tips dankbar).
Jetzt können wir – ausgehend von 23 Fällen in Fürth LK/Stadt heute – den Verlauf der bestätigten Fälle für Stadt und Landkreis Fürth vorhersagen, wir kommen bei ca. 3.600 heraus bis Anfang Mai, wenn das “Bremsen” ab 5.4.2020 einsetzt:

Schritt 2: Modellieren der Patienten-Geschichten
Aus der Ausbreitung der Infektion und somit den Fallzahlen können wir nun eine Vorhersage für laufenden Zahlen der Patienten machen, in dem wir vier verschiedene Modellierungen verwenden:
- “Kranker Mensch”: 90% der Infizierten müssen nicht ins Krankenhaus. Die Infektion dauert ca. 2 Wochen. Solange sind sie “Spreader” und zu isolieren.
- “Stationärer Patient”: 10% der Infizierten kommen nach 5 Tagen in Krankenhaus (über die Notaufnahme, s.u.) und bleiben dort 5,5 Tage, wenn sie nicht auf Intensiv müssen.
- “Intensiv-Patient”: 3% der Infizierten kommen nach 2 Tagen stationärer Behandlung (d.h. 7 Tage nach Infektion) auf Intensiv, bleiben dort 10 Tage zur Beatmung, 2/3 davon überleben und kommen dann nochmals für 10 Tage auf Station zur Nachbehandlung-
- “Besucher der Notaufnahme”: Zusätzlich zu den o.g. “stationären Patienten” kommen 5% der Infizierten 3 Tage nach Start ihrer Infektion in die Notaufnahme, können aber nach ambulanter Behandlung wieder nach Hause gehen, d.h. werden nicht stationär aufgenommen-
Die Prozentzahlen und Laufzeiten habe ich mit Dr. Dormann, Chefarzt der Notaufnahme im Fürther Klinikum, abgesprochen und sind z.Zt. unsere “Best Estimates”. Diese Zahlen werden sich durchaus noch verändern, insbesondere die ambulante Besucherzahl der Notaufnahme ist grob geschätzt, weil wir nicht wissen, wie gut die niedergelassenen Ärzte das abfangen werden.
Damit sind wir bei diesen Eingabeparametern:

Was wir brauchen sind Zahlenverläufe für die o.g. vier Patientengruppen, und zwar “Anzahl der Menschen, die an diesem Tag zu dieser Gruppe gehören”, eine pro Tag kumulierte Zahl, ausgehend individuellen Infektionsdatum und dem jeweiligen Verlauf (Tage bis Klinik, Klinikaufenthalt, usw.).
Schritt 3: Die Aufgabe mit Code bzw. Google Sheets lösen
Auf Basis der o.g. Annahmen und Patienten-Modellierung habe ich eine Google-Sheets/Tabellenkalkulation erstellt, die nach Eingabe der oben dargestellten Daten die Berechnungen der Infektionen und der Patientenzahlen tätigt.
Dabei ergibt sich für Stadt und Landkreis Fürth und somit für das allein-versorgende Klinikum Fürth:
- Es werden maximal 69 Intensivbetten und 138 stationäre Betten benötigt
- wobei dies nur die COVID-19 Fälle sind, also wohlgemerkt immer zusätzlich zum normalen Klinik-Betrieb
- Der Höhepunkt des Ansturms ist der 13.4. mit 145 Covid-19 Fällen in der Notaufnahme (wieder, zusätzlich zum Alltagsbetrieb)

Fürth hat übrigens in “Friedens-Zeiten” ganze 32 Intensiv-Betten, die in der Regel schon gut besetzt sein dürften. Da gibt es also eine große Differenz.
Warum ist der frühe Lockdown und das Erstellen dieser Vorhersagen so wichtig?
Wenn wir jetzt so ein Modell haben, dann können wir mal verschiedene andere Annahmen durchspielen:
- 1. Annahme: Lockdown findet 5 Tage später statt, Infektionszahl sinkt erst ab 10.4. (statt 5.4.) => Die Anzahl der benötigten Intensivbetten steigt von 69 auf 256 (!), die Infektionen von 3.600 auf 13.000
- 2. Annahme 5% statt 3% der Infektionen benötigen Intensiv-Medizin => Es werden 115 statt 69 Intensivbetten benötigt
- 3. Annahme: Tägliches Wachstum der Fälle nur 25% statt 30% => Anzahl der benötigten Intensivbetten sinkt von 69 auf 31
Daran kann man erkennen, wie wichtig es ist, diese Berechnungen zu machen und auch, wie wichtig es ist, für die Eingangsparameter möglichst gute Schätzungen zu machen.
Und diese Berechnungen muss man quasi jeden Tag neu durchführen, sobald die tagesaktuellen Infektionszahlen für die Kommune bereit stehen.
Die Datei zum Selber-Damit-Arbeiten
Update: 23.3.2020 22:50 Uhr: Der Onlinedienst ist jetzt unter www.covidcare.de verfügbar. Bitte verwenden Sie diesen Dienst um ihre Berechnungen durchzuführen.
Der Predictor liegt als Google Sheets Tabellenkalkulation vor. Unter der folgenden URL können Sie die Datei ansehen/verwenden:
Ansicht der Datei (kein Editieren möglich)Eine Kopie anlegen um die Vorhersage mit eigenen Daten durchzuspielen (sie benötigen dafür ein kostenloses Google-Konto)Update 23.3.2020: Bugfix für “Anzahl Besucher der NA”Ansicht der Datei (kein Editieren möglich)Eine Kopie anlegen um die Vorhersage mit eigenen Daten durchzuspielen (sie benötigen dafür ein kostenloses Google-Konto)
Beispielrechnungen für einzelne Städte
Hier sind ein paar Beispielrechungen:
- Nürnberg Stadt (aktuell 63 Fälle):
Maximale Anzahl NA-Besucher | 396 |
Maximale Anzahl stationäre Patienten | 377 |
Maximale Anzahl Intensivpatienten | 189 |

- Erlangen Stadt (aktuell 15 Fälle):
Maximale Anzahl NA-Besucher | 94 |
Maximale Anzahl stationäre Patienten | 90 |
Maximale Anzahl Intensivpatienten | 45 |
- München Stadt (aktuell 591 Fälle)
Maximale Anzahl NA-Besucher | 3,715 |
Maximale Anzahl stationäre Patienten | 3,537 |
Maximale Anzahl Intensivpatienten | 1,775 |
Nächste Schritte
Wir bauen gerade ein Team auf und prüfen ober wir die oben dargestellte Funktion online kostenlos im Netz zur Verfügung stellen könnten als Service-Website.
Großartige Arbeit, dazu noch sauber Dokumentiert. Größten Respekt! Weiter so.
LikeLike
Großartig! Herzlichen Dank! Bin mit Harald in Kontakt
LikeLike
Sehr gelungene Darstellung
LikeLike
Hi Dirk,
finde ich super! Gut, dass Du da so viel Aufwand reinhängst.
Gruß
Rüdiger
LikeLike