Corona: Ein Lockdown über Weihnachten/Neujahr kommt zu spät

Stell Dir vor, Du bist politischer Entscheider in Deutschland, und Du hast verstanden, dass die Corona-Infektionen ohne einen 3-4 wöchigen Lockdown das Gesundheitssystem komplett überrollen werden. Dann könntest Du Dir denken: “Hey, zwischen Weihnachten und Dreikönig ist das Land eh im Winterschlaf, dann machen wir doch unseren Lockdown über die Feiertage. Da sind Schulen und viele Firmen sowieso zu oder auf halber Kraft.”

Klingt erstmal nach einer guten Idee, nunja…. abgesehen davon, dass damit das Weihnachtsfest Deiner Bürger im Eimer ist. Und außerdem kommt der Lockdown dann leider zu spät.

Schauen wir uns das Stück für Stück an…

1. Politik und Regierung denken wohl nicht weiter als 2 Wochen voraus?

Vor 2 Wochen war die Politik in Deutschland ganz arg stolz darauf, dass man sich landesweit auf eine “Corona Ampel” geeinigt hatte. Ab 35 und ab 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in 7 Tagen werden einige Regeln verschärft. Sehr weitsichtig war das aber nicht gerade, waren doch zu dem Zeitpunkt viele unserer Nachbarn schon bei einer Inzidenz von 100 oder 200. Also mehr als 2 Wochen in die Zukunft hat dabei offensichtlich keiner gedacht.

Innerhalb von 10 Tagen hat sich fast das ganze Land auf Ampel-Stufe 3 entwickelt…

Quelle: http://www.risklayer-explorer.com/event/100/detail

… und unsere Kanzlerin hat die Bürger mit einer inzwischen völlig überholten Hochrechnung (sie prognostizierte für Weihnachten 19.200 Infektion, das werden wird aber schon nächste Woche sehen) gebeten, doch bitte die Anzahl der Kontakte zu senken. Aber von einer Verlangsamung des Wachstums der Neuinfektionen ist nichts zu sehen:

Da gibt es aber tatsächlich noch Politiker wie unseren Wirtschaftsminister Altmaier, der sagt: “Einen neuen flächendeckenden Lockdown darf es nicht geben, und ich halte ihn auch nicht für erforderlich”. Hä? Wahrscheinlich redet er sich später dann mit dem Wort “flächendenkend” raus, weil 4 glückliche, eher menschenleere Landkreise mit sehr niedrigen Infektionsraten drum herumkommen.

2. Ohne Lockdown wird es nicht gehen

Die Verdopplungszeit liegt aktuell bei 10 Tagen, das heißt alle 3 Wochen vervierfacht sich die Anzahl der Neuinfektionen. Bis Weihnachten sind es noch fast 9 Wochen, also hätten wir dann fast 64 mal so vielen Neuinfektionen wie heute, das wären ca. 1 Million Neuinfektionen pro Tag (wenn das praktisch überhaupt möglich wäre). Willkommen beim exponentiellen Wachstum.

Dabei ist es dann völlig egal, ob die Todesrate der Infizierten 1,0% oder 0,5% ist, ob 10% oder 20% der Infizierten ins Krankenhaus müssen. Immer 10 Tage weiter ist die Zahl der Infizierten verdoppelt, das heißt wir werden jeden beliebigen Grenzwert erreichen und jedes Krankhaus überrollen, wenn wir nicht früh genug eingreifen.

Hinzu kommt noch, dass bisher die Gesundheitsämter mit der Kontaktverfolgung das Wachstum noch gebremst haben. Solange das gut klappte, wurden viele Infizierte “weggeräumt” und das senkte die Neuinfektionen. Aktuell sind 360.000 (!) Menschen in Deutschland in Quarantäne, fast 50% mehr als vor 10 Tagen! Wenn die Zahl der Infektionen weiter ansteigt ist aber doch völlig klar, dass das nicht mehr klappen wird. In Berlin haben die Gesundheitsämter diese Arbeit bereits praktisch eingestellt, Infizierte sollen Ihre Kontakte selber anrufen. Damit laufen also noch mehr Infektiöse herum, ohne es zu wissen. Irgendwann müssten wir alle in Quarantäne (=Lockdown).

Die bisherigen Maßnahmen haben gezeigt, dass wir es nicht schaffen, das Wachstums zu bremsen (so wie das auch keines unserer Nachbarländer geschafft hat). Das wird offensichtlich nur mit drastischen Maßnahmen hinhauen. Also ein Lockdown! (Find ich genauso Sch*e wie jeder andere).

3. Warum wir bremsen müssen

Etwa ein Prozent der Infizierten überlebt die Infektion nicht. Etwas weniger, wenn maßgeblich junge Menschen infiziert werden, so wie aktuell. Aber mehr als 1%, wenn es die “Alten” erreicht. Das Problem: Es wird die Alten erreichen, das ist unvermeidlich, wenn die Jungen sehr hohe Infektionsraten haben. Wir können nicht 1/3 der Bevölkerung vom hoch-infektiösen Rest abschirmen.

Das haben wir z.B. in Frankreich gesehen, da ging es Anfang August bei den 20-29-jährigen los und verteilte sich dann in nur 6 Wochen auf alle Altersstufen:

Die Grafik zeigt die Infektionen pro Woche und Altersgruppe, Quelle: https://twitter.com/icestormfr/status/1320096717803499523?s=11

Den Anfang davon kann man in z.B. Bayern jetzt auch schon sehen:

Quelle: https://corona-data.eu/bayern/

Da kommt eine neue Welle auf die Krankhäuser zu. Die Covid-Patientenzahlen auf Intensivstationen in Deutschland steigen bereits steil an (orange Linie):

Quelle: https://www.divi.de/register/tagesreport

Dabei muss man bedenken, dass die 1.203 hier genannten Patienten sich vor ca. 2-6 Wochen infiziert haben, da hatten wir nur 1/2 bis 1/8 der aktuellen Inzidenz. Die Anzahl der täglichen neuen Covid-Patienten in Kliniken und Intensivstationen wird sich auch alle 2 Wochen verdoppeln, ggf. geht das sogar schneller, weil mehr und mehr ältere Menschen betroffen sein werden. In der Schweiz ist die Überlastung wohl schon jetzt nicht mehr abwendbar.

Von den o.g. 6.199 freien Intensivbetten sollte man sich auch nicht zu sehr in Sicherheit wiegen lassen, denn es wurden im Frühjahr nur neue Intensivbetten und Beatmungsgeräte angeschafft. Das nötige neues Fach-Personal wurde nicht angeschafft und bei hohen Fallzahlen unter den jungen Leuten werden auch viele Personen des Krankenhauspersonals erkranken und ausfallen. Da stehen dann Intensivbetten, die keiner “bepflegen” kann.

4. Wie wir bremsen müssen

Stufe eins, vor dem Lockdown, sind verbindliche Regeln für das ganze Land, ähnlich den Empfehlungen der Schweizer “National COVID-19 Science Task Force“:

  • Masken tragen. Immer wenn sich Menschen begegnen.
  • Homeoffice, wo immer möglich
  • Umstellung der Schulen/Universitäten auf Online, wo immer möglich
  • Private Zusammenkünfte auf maximal 10 Personen beschränken
  • Beschränkungen für öffentliche Veranstaltungen (<50 Personen), Bars und Gastronomie
  • Kein gemeinsamer Sport, kein Chor, keine Blasmusik-Band, usw.

Wir machen deutschlandweit noch nicht einmal das flächendeckend!

Daher kommt dann Stufe 2: Lockdown. Zu Hause bleiben, außer man geht einkaufen, zur Arbeit oder zum (Aussen-)Sport. Schulen machen Online-Unterricht. Das wird mindestens 4 Wochen gehen müssen, vielleicht auch 8+? Und wenn’s blöd läuft haben wir das in 2021 auch nochmal.

5. Wann wir bremsen müssen

In Frankreich ist die Belastung der Krankenhäuser schon so hoch, dass bald die gefürchteten Triage-Entscheidungen gefällt werden müssen. Frankreich hat mit 285 eine ca. 4x so hohe Inzidenz wie wir (76), da wären wir also in 6 Wochen. In Holland (340) sieht es ähnlich aus.

Nach dem Start eines Lockdown geht das Wachstum der Infizierten noch ca. 2 Wochen weiter (weil es 10 Tage dauert bis wir einen heute neu Infizierten als solchen erkennen und zählen). Die Neuinfektionen verdoppelt sich also nach Start des Lockdown noch einmal. Also bleiben uns nur 10 Tage bis zum Lockdown. Und der endet dann – im günstigsten Fall – am 3. Advent.

Ich denke es ist klar geworden, dass wir den Lockdown nicht in die Weihnachtsferien verschieben können. Dann kommen wir zu spät.

Wir müssen da sowieso “durch”. Dann doch lieber früher, denn der Lockdown wirkt dann besser und wir vermeiden viele Erkrankte und viele Tote.

Wenn doch unsere Politiker den Mut hätten, da offen drüber zu reden, mit einem Weitblick, der über mehr als 2 Wochen hinaus reicht.

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG

One thought on “Corona: Ein Lockdown über Weihnachten/Neujahr kommt zu spät”

  1. Sehr gute Bewertung der aktuellen Lage, die hoffentlich hilft Menschen wach zu rütteln.

    Zu 5.: Wann müssen wir bremsen
    Dies ließe sich alternativ über die Belegung der Intensivstationen abschätzen. Heute sind es im DE-Mittel knapp unter 5% COVID-19 Patienten auf allen bei DIVI geführten Intensivstationen (in Berlin bereits 10%).
    3 Verdopplungen von 5% wäre 40% (deutschlandweit), was vermutlich die Kapazitätsgrenze der Intensivstationen ist, da es ja zusätzlich noch viele nicht-COVID-19 Patienten gibt und nicht genug Personal vorhanden ist, wie oben beschrieben.

    Die Intensivstationsbelegung läuft der Zahl der Neu-Infektionen um einige Tage hinterher, hier der Einfachheit mal 10 Tage angenommen, vermutlich sind es mehr. Damit ist bereits min. eine Verdopplung der Belegung durch COVID-19 zu erwarten und unabwendbar.
    Bliebe die Verdopplungszeit der Neu-Infektionen bei 10 Tagen (wie im aktuell seit einer Woche im DE-Mittel) , so wären die verbleibenden 2 Verdopplungen bis zu zur 40% Belegung in 20 Tagen unabwendbar und würde in 20+10 Tagen am 22.11.2020 eintreten.

    Verschlechternd kommt hinzu, dass Intensivstationspatienten wohl oft viel länger dort bleiben als die 7 Tage, die in der Inzidenz der Neu-Infektionen berücksichtigt werden. Somit kommt es zum “Anstau” neuer Patienten, was sich verkürzend auf die Verdopplungszeit der Intensivstationsbelegung auswirken sollte. Ich hoffe ich habe mich verrechnet und am 22.11.2020 ist die Lage viel besser als hier skizziert.

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