Mit zwei Grafiken, die den Jahresverlauf aller 401 Landkreise in Deutschland darstellen, möchte ich versuchen zu zeigen, warum wir mit unserem Lockdown-Light jetzt feststecken.
Dabei schaue ich wieder auf das Wachstum der 7-Tage-Neuinfektionszahlen, die ich auch im letzten Blogbeitrag “Die mathematischen Grundlagen der Pandemie” verwendet habe.
Zur Erinnerung, die Anzahl der täglichen Neuinfektionen in Deutschland sieht so aus: Seit Oktober steiler Anstieg, Abbrechen des schnelles Wachstums Anfang November, und jetzt dümpeln wir mit um die 17.000 Infektionen pro Tag auf ungut hohem Niveau herum, täglich verursachen wir hunderte COVID-Tote für in 3-4 Wochen (1-2%), und es geht nichts rechtes vorwärts.

Die 401 deutschen Landkreise nach 7-Tage-Infektions-Wachstum aufgedröselt
Meine erste Grafik schlüsselt die 401 Landkreise in Deutschland für jeden Tag seit Beginn der Pandemie auf nach deren 7-Tage-Wachstumsraten:
- Dunkelrot: Anzahl der Landkreise, in denen die Anzahl der 7-Tage-Neuinfektionen 7 Tagen um mehr als 50% zugenommen hat
- Mittelrot: Anzahl der Landkreise, in denen die Anzahl der 7-Tage-Neuinfektionen 7 Tagen um mehr als 25% und weniger als 50% zugenommen hat
- Hellrot: Anzahl der Landkreise, in denen die Anzahl der 7-Tage-Neuinfektionen 7 Tagen um mehr als 0% und weniger als 25% zugenommen hat
- Blau: Anzahl der Landkreise, in denen die Anzahl der 7-Tage-Neuinfektionen unverändert blieb (0% Wachstum)
- usw.
Kurz gesagt: Viel dunkles grün ist gut, viel dunkles rot ist schlecht.
Mit dem roten Pfeil habe ich den Start des Lockdowns im März markiert. Kurz danach steigt der Anteil an “grünen” Landkreisen, in denen die Neu-Infektionszahlen wöchentlich fallen. Von 9.4. bis 26.5. sinken täglich in mehr als der Hälfte aller Landkreise die 7-Tage-Infektionen. Im Juni (blauer Pfeil) haben wir dann aber wieder so viele Kontakte erlaubt, dass jeden Tag weniger als die Hälfte aller Landkreise steigende Neuinfektionszahlen melden, viele – zeitweise die Hälfte aller Landkreise – bleiben unverändert mit 0% Wachstum der Neuinfektionen (blaue Fläche).

Im Oktober (rosa Pfeil) kommt es zum “Ausbruch”, innerhalb von 10 Tagen steigen plötzlich in fast allen Landkreisen Deutschlands die Infektionszahlen an. Phasenweise herrscht in 3/4 der Landkreise mehr als 50% Wachstum alle 7 Tage. Genau hier zwischen 6.10. und 14.10. haben wir es verpasst schnell und hart mit einem kurzen Lockdown dazwischen zu gehen – die Politik hatte sich entschieden abzuwarten, die Infektions-Zahlen gingen noch bis in den November steil nach oben, und jetzt haben wir den Salat.
Der November-Lockdown-Light drängt das Wachstum zwar deutlich zurück. Aber nicht weit genug: Jetzt (gelber Pfeil) halten sich quasi jeden Tag die Anzahl der Landkreise, die wachsen bzw. sinken, die Waage, ca. 200 steigen und ca. 200 sinken jeden Tag. Das Ergebnis ist dann unsere aktuelle Seitwärtsbewegung mit nur leichter Besserungstendenz.
401 Landkreise nach Perzentilen des 7-Tage-Infektions-Wachstums aufgedröselt
Interessant ist auch noch eine zweite Betrachtung: Wiederum basierend auf dem 7-Tage-Wachstum je Landkreis habe ich hier die 10%, 25%, 50%, 75% und 90% Perzentile für jeden Tag berechnet.
Die rote 90%-Perzentil-Linie zeigt uns, wie stark die 40 am schnellsten wachsenden Landkreise (40 = 10% der 401 Landkreise) gewachsen sind, und wie man sieht gibt es da Phasen, wo die schnellsten Landkreise um 200% oder gar 300% in 7 Tagen gewachsen sind. Wow.

Dieses sehr stark Wachstum wurde aber durch die Lockdowns erfolgreich gestoppt: Im März (blauer Pfeil) ebenso wie im November (grüner Pfeil) – Man kann also die Lockdown-Light-Wirkung gut sehen. Über den Grund für den Abfall der roten/gelben Linie im August kann ich nur spekulieren, die Ferienzeit (u.a. leere Schulen) scheint mit aber der wesentliche Verdächtige zu sein.
Im Mai/Juni/Juli hatten wir eigentlich genügend Signale, dass wir “zu locker lassen” und hatten auch noch die infizierten Urlaubsheimkehrer, die offensichtlich viele Cluster erzeugt haben (rosa Pfeil).
Was unterscheidet nun den blauen Lockdown im März vom grünen Lockdown im November?
Es ist eine klare Wirkung der Kontaktbeschränkungen ab Anfang November zu sehen, denn selbst die 40 am schnellsten wachsenden Landkreise (rote Linie) bleiben beim 7-Tage-Wachstum bei maximal 50%. Die größeren Super-Spreader-Events werden wohl vermieden.
Die blaue Linie, der 50% Percentile (=der Median aller Landkreise), liegt seit Mitte November um die null, gleich viele Landkreise sinken und wachsen. Aber selbst die 40 am schnellsten sinkenden Landkreise (10% Perzentil, dunkelgrüne Linie) sinken nur um 30% oder mehr. Im April im ersten Lockdown lagen diese Werte VIEL BESSER und haben die Welle viel schneller abgesenkt.
Und genau das fehlt uns jetzt, damit wir endlich die Neuinfektionszahlen erfolgreich senken könnten. Da kommen wir aber nur mit Verschärfung hin.
Leider hat sich die Politik bisher entschieden den “zu laschen” Lockdown Light weiterlaufen zu lassen (in vollem Wissen, dass er zu lasch ist). Anstatt 3 Wochen hart dazwischen zu gehen, sodass wir uns danach alle wieder normaler verhalten können, läßt man dem Infektionsgeschehen noch so viel Luft, dass täglich 17.000 Menschen neu infiziert werden. Dabei wachsen jeden Tag in der Hälfte aller Landkreise die Fallzahlen an, das ist aus meiner Sicht keine stabile und nachhaltige Situation, das kann auch jederzeit kippen, denke ich.
Das wird nochmals fragiler, wenn man sich die Verteilung der Infektionen über die Altersgruppen anschaut, der Anteil der “80+” Altersgruppe steigt stetig an. Nicht gut für die Sterblichkeitsrate und den Run auf die Kliniken.

Ziehen wir das echt noch bis Weihnachten weiter so durch UND dann mischen wir das ganze Land und alle Altersgruppen zum Fest für 10 Tage durch? Echt jetzt? Dann wird der Start ins nächste Jahr düster – und dabei könnte 2021 eigentlich ein gutes Jahr werden mit Impfstoffen, Schnelltests, usw.
So sieht kein mutiger, wissenschafts-basierter Plan für die Zukunft aus.
Anmerkungen zur Methodik
Ich habe es mir etwas vereinfacht, indem ich nur mit den “ungewichteten” Landkreisen gearbeitet habe, also große und kleine Landkreise quasi gleichgestellt habe. Auch wenn man dabei an die Stadtstaaten (Berlin, HH, usw.) als bevölkerungsreiche Landkreise denkt, scheint mir diese Vereinfachung trotzdem erlaubt zu sein, um das Prinzip dieser Analyse zu verdeutlichen. Denn es geht mir ja darum, die Pandemie-Situation in der Fläche zu beleuchten.
Quellenangabe der Daten
Die Tagesdaten kommen von www.risklayer.com: Data can be used for reproduction with attribution to “Risklayer GmbH (www.risklayer.com) and Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology (CEDIM) at Karlsruhe Institute of Technology (KIT) and the Risklayer-CEDIM SARS-CoV-2 Crowdsourcing Contributors”. Authors: James Daniell| Johannes Brand| Andreas Schaefer and the Risklayer-CEDIM SARS-CoV-2 Crowdsourcing Contributors through Risklayer GmbH and Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology (CEDIM) at the Karlsruhe Institute of Technology (KIT). Data sources can be found under https://docs.google.com/spreadsheets/d/1wg-s4_Lz2Stil6spQEYFdZaBEp8nWW26gVyfHqvcl8s/edit?usp=sharing
Nachtrag 3.12.2020
Karl Lauterbach hat meinen Blog Artikel geteilt.
(2) Die jetzige Lage ist weder stabil noch gut. Wir haben so keine Aussicht auf Lockerungen und es sterben trotzdem jeden Tag viel zu viele Menschen. Wahrscheinlich wäre ein konsequenterer Shutdown jetzt sinnvoller. Jetzt warten wir auf Weihnachtsfest, und fürchten das Schlimmste
(3) Jetzige Dynamik: Intensivbetten laufen langsam über. Zahl Neu-Infizierter sinkt langsamer als Zahl der Intensivpatienten zunimmt. Alle 4-6 Tage kommt neue Generation Intensivpatienten, die dann 2-3 Wochen liegt. Warnungen sind unbeliebt, aber sie verhindern tödliche Irrtümer
Originally tweeted by Karl Lauterbach (@Karl_Lauterbach) on December 2, 2020.
Zunächst: Sehr interessante Auswertung und starke Visualisierungen – vielen Dank dafür!
Als Anmerkung zum Quantilsplot: Die hohen Werte für das oberste Wachstumsdezil und auch für das oberste Wachstumsquartil der Landkreise bis zum August sind m.E. darauf zurückzuführen, dass die absoluten Zahlen zu diesem Zeitpunkt sehr niedrig waren und weiter sanken und damit ein einzelner Hotspot in vielen Landkreisen kurzfristig für eine Verdreifachung oder Vervierfachung der ansonsten niedrigen Zahlen sorgen konnte (z.B. Wachstum um 300% von 10 auf 40 Infektionen). Das ist m.E. eigentlich ein wünschenswerter Zustand: Kriegt man die Hotspots in den Griff, dann kriegt man die Weiterverbreitung des Virus insgesamt in den Griff. Das gelang offensichtlich auch, denn das unterste Dezil des Infektionszahlenwachstums konnte während des Sommers (Mai bis Juli) regelmäßig bei minus 100% liegen. Also wurde offenbar eine Weiterverbreitung durch die wenigen Infizierten erfolgreich verhindert. Oft dürften demnach dieselben Landkreise in einer Woche im obersten Dezil liegen (von 0 auf 20 Infektionen) und in der darauf folgenden Woche im untersten Dezil (von 20 auf 0 Infektionen).
Der Einbruch der Zahlen für die oberen Wachstumsperzentile ist ab dem Ende des Sommers zu beobachten, etwa in den letzten zwei Augustwochen. Das ist demzufolge eher ein schlechtes Zeichen: Ab diesem Zeitpunkt wurde das Infektionswachstum – möglicherweise durch die Virusverbreitung über die nach den Ferien wieder geöffneten Schulen – zunehmend diffus, und die Möglichkeit, Neuinfektionen auf einzelne Hotspots zurückzuführen, fiel damit auch für diejenigen Landkreise weg, in denen sie zuvor noch bestand. Im untersten Dezil sehen wir bereits einige Wochen zuvor keine erfolgreiche Unterbrechung der Infektionskette (also ein Wachstum von -100%) mehr auf Wochenbasis.
In Landkreisen mit bereits hohen Infektionsniveaus dürften kurzfristige Wachstumsraten von mehreren hundert Prozent kaum erreichbar sein. Somit sehen wir im Oktober im obersten Dezil vermutlich vor allem den “Aufholprozess” der Landkreise, die zuvor nur wenige Infektionen hatten. Der anschließende Abfall des obersten Wachstumsdezils ist wohl zum Teil dank des Lockdowns Light zu beobachten, teilweise aber auch einfach darauf zurückzuführen, dass die meisten Landkreise bereits ein Niveau erreicht haben, in dem ein kurzfristig hohes Wachstum kaum noch vorkommen kann, weil dazu viele gleichzeitig stattfindende Superspreader-Events nötig wären. Ein Erfolg des Lockdowns Light ist hingegen wohl der Rückgang des Medianwachstums. Das ist auch die Größe, die wir im Blick behalten sollten.
Ansonsten dürfte die Lehre aus dem Sommer sein, dass eine Eindämmung vor allem mit lokaler Isolation möglich ist. Die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein profitieren bis heute davon, dass sie die “Einreise” sehr restriktiv geregelt haben. Man müsste jetzt also damit beginnen, in den Landkreisen, die aktuell sehr niedrige Infektionszahlen haben, die “Einreise” grundsätzlich zu verbieten und in begründeten Ausnahmefällen nur nach einem negativen Corona-Schnelltest zu gestatten. Sobald der Landkreis dann nach wenigen Wochen coronafrei ist, könnten intern alle Einschränkungen aufgehoben werden. Das wäre u.a. für die lokalen Politiker sicherlich ein Handlungsanreiz. Sobald ein Nachbarlandkreis coronafrei ist, könnte man “Einreisen” von dort wieder unbeschränkt zulassen. Beginnen könnte man mit dem derzeit am besten aufgestellten Kreis Schleswig-Flensburg.
LikeLiked by 1 person
Danke für diesen weiterführenden Kommentar!!!
LikeLike