Leider haben sich die Befürchtungen der Wissenschaftler über die höhere Ansteckung der “englischen” Mutation B.1.1.7 aus meinem Artikel vom letzten Sonntag eher bestätigt als verringert.
Das ist jetzt wie eine neue Pandemie, die sich ausbreitet. Man kann sich das durchaus so vorstellen, als würde zusätzlich zur bisherigen Corona-Pandemie eine weitere Pandemie starten, zufällig auch ein Corona-Virus, aber mit deutlich höherer Verbreitungsgeschwindigkeit.
„In Deutschland wird bisher kaum über das Potenzial der Virus-Variante geredet. Dabei ist die Ausgangslage nicht besonders gut [..] … wäre eine Ausbreitung der mutierten Variante so, als startete eine neue Pandemie, während die erste noch gar nicht bewältigt wurde.” schreibt Silke Jäger auf krautreporter.de.
Was wir (mit hoher Sicherheit) wissen
- Die neuen Varianten aus UK und Südafrika sind 50-70% ansteckender als das “bisherige” Corona Virus (aber warum die Ansteckung stärker ist, wissen wir nicht genau, einige Indizien deuten auf höhere Viruslast hin).
- Was man da nicht sofort versteht: Es ist eben nicht so, dass wir 50% mehr Fälle hätten wie bei der bisherigen Variante. Sondern der Zuwachs an neuen Fälle steigt eben ALLE 4 Tage 50% stärker, das “beschleunigt” schneller!
- Sogar während eines 4-wöchigen Lockdowns in England ist im November die Ausbreitung der B.1.1.7 Variante exponentiell weitergewachsen, während die bisherigen Mutation erfolgreich durch den Lockdown abgesenkt wurden.
- Die neue Variante ist für den einzelnen Patienten wohl nicht tödlicher oder krank-machender.
- Wir erwarten, dass unsere Impfstoffe auch gegen die neuen Mutation helfen.
- Wir impfen zu langsam.
Eine erheblich höhere Ansteckung einer Mutation ist aus pandemischer Sicht schlimmer als wenn die Letalität höher wäre. Denn die höhere Ansteckung bedeutet schnelleres, exponentielles Wachstum, viel mehr Infektionen und dadurch viel mehr Opfer als durch ein sich langsamer ausbreitendes, tödlicheres Virus. In einem Monat kann sich die Anzahl der Toten/Tag versiebenfachen.
Wieviel B.1.1.7-Verbreitung wir in Deutschland haben, wissen wir nicht
Während England schon länger die Genome von sehr vielen positiven Corona-Tests sequenziert – und dadurch auch die neue Mutation entdeckt und als gefährlich erkannt hat – haben wir das in Deutschland verschlafen (wir schaffen nicht einmal 1% der englischen Stückzahl). Es wird wohl noch einige Wochen dauern, bis wir wissen, wie weit die Verbreitung der neuen Mutation im Land ist. In Südengland hat die neue Mutation innerhalb von 6 Wochen das komplette Infektionsgeschehen praktisch komplett übernommen (>80%) und die alten Varianten verdrängt, wie diese Grafik zeigt.

London’s Inzidenz liegt jetzt über 800, in ganz England hat das Fallwachstum einen Gang höher geschaltet, mit fast 60.000 Infektionen gestern:

Die Zahlen der Krankenhauszugänge in London sehen schlimm aus. Weil im letzten Lockdown der Engländer die Schulen offen blieben, gibt es jetzt eine klar erhöhte Fallzahl in den Altersgruppen unter 20 Jahren. Ob das auch an einer Veränderung der Mutation liegt, die Kinder stärker betrifft, kann man noch nicht sagen.
Warum in Deutschland immer noch einige Menschen denken, dass die Schulen mit dem Verlauf der Pandemie und der Ausbreitung des Virus nichts oder nur sehr wenig zu tun haben, bleibt mir weiterhin ein Rätsel.
Prof. Drosten sagte in seinem Podcast am 24.11.2020: “Wahrscheinlich ist aber, dass offene Schulen eine wichtige Rolle in der Pandemie spielen. Darauf weisen die Daten aus Großbritannien schon länger hin. In der öffentlichen Debatte in Deutschland ist das jedoch noch gar nicht richtig angekommen.”
Eine englische Studie (veröffentlicht am 31.12.2020) zeigt, dass Schulkinder häufig der “Index-Fall” in der Familie sind, d.h. dass sie die Infektion in die Familie einbringen – aus der Schule (Kinder zwischen 12 und 16 Jahre 7-mal wahrscheinlicher als Jugendliche 17+). Zitat: “accumulating evidence is consistent with increased transmission occurring amongst school children when schools are open, particularly in children of secondary school age (high confidence).”
Mit B.1.1.7’s erhöhter Ansteckung können wir m.E. in ein paar Wochen den Präsenzunterricht sowieso komplett vergessen! Wenn wir aber JETZT die Schulen (und Läden usw.) aufmachen, kann die Verbreitung viel schneller ablaufen. Erst muss die Inzidenz runter. Lasst uns ein Elternzeit-ähnliches Modell machen für Eltern, die ohne Schulen ein Betreuungsproblem haben: Solange die Kinder wegen der Pandemie nicht in die Schule können und ein Elternteil zu Hause bleibt, übernimmt der Staat 50% oder 70% des Einkommens (wieder so ein Konzept, das es schon länger gibt, das aber – wie die Digitalisierung der Schulen – verschleppt wurde).
Was wir tun müssen
Wir müssen den aktuellen Lockdown durchhalten bis wir klar unter einer Inzidenz von 25 Fällen pro Woche pro 100.000 Einwohner sind, dann haben wir vielleicht eine Chance, “englische Zustände” zu vermeiden. Damit senken wir auch die Gefahr weiterer Mutationen.
Das wird bis in den Februar hinein dauern, nach meiner Berechnung, die mit heute aktualisierten Daten nicht viel anders aussieht als vor 2 Wochen (wohlgemerkt ohne Berücksichtigung einer möglicherweise noch hinzukommenden Weihnachtsansteckungswelle oder höherer Ansteckung durch B.1.1.7, weil beides nicht abschätzbar!).

Dass B.1.1.7. bereits in Europa und in Deutschland unterwegs ist, wissen wir. Sobald sich B.1.1.7 in ein paar Wochen verstärkt in Deutschland verbreitet und das Pandemie-Geschehen übernimmt (so wie in England, was nach Meinung vieler Experten unausweichlich ist) werden die Fallzahlen ähnlich wie gerade in England sprunghaft ansteigen (und wir werden das erst in ein paar Wochen verstehen wegen zu wenig Sequenzierung, s.o.). In Dänemark zeigt sich bereits eine Verdopplungszeiten des Anteils der neuen Mutation von unter einer Woche (Quelle).
Dann wird uns nur ein noch strikterer Lockdown übrig bleiben. Weil das mit dem Impfen bis dahin zu langsam sein wird. Es könnte auch sein, dass der aktuelle Lockdown direkt im Februar in den nächsten, härteren Lockdown übergeht, je nachdem wie schnell sich B.1.1.7 bei uns verbreitet. In England ging es in nur 6-8 Wochen von 5% der Neuinfektionen auf zuletzt 80%. Oder wir haben dazwischen nochmal eine Phase mit weniger Einschränkungen.
Die neue Mutation ist VIEL ansteckender. Unsere bisherigen (relativ leichten) Lockdowns könnten sie nicht aufhalten, wir würden im exponentiellen Wachstum verbleiben. Welche Maßnahmen bleiben uns sonst noch, ZUSÄTZLICH zum aktuellen Lockdown?
- An den Grenzen klare Quarantäne und Test-Regeln aussprechen UND durchsetzen (hier beschreibt ein Reisender, wie er nach Ankunft in Süd-Korea 24h braucht, bis er den Flughafen nach negativem Test verlassen kann – um sich dann 14 Tage zu Hause isolieren zu müssen) => Schottland war kurz vor “#zerocovid”, aber dann wurden außen neue Virus-Varianten eingeschleppt.
- Reisen ganz allgemein auf das minimal Nötigste einschränken (kein Sonntags-Ausflug zum Rodeln zusammen mit tausenden anderen!)
- Mehr Virus-Proben sequenzieren
- Fern-Unterricht/Fernlernen für alle ermöglichen
- Home-Office-Pflicht wo irgend möglich
- massive Verstärkung der Schutzkonzepte für Krankenhäuser, Heime, usw. UND FÜR DIE SCHULEN!
- Gastronomie, Hotels, Läden bleiben zu, leider.
- Impfen like crazy
Na klar, das können wir uns alle nicht so recht vorstellen, wie es nochmal strenger gehen soll, und dann auch noch länger. Aber mit dem Virus können wir nicht verhandeln: Wenn wir es unkontrolliert laufen lassen, rauschen wir in eine Katastrophe: auch unter-60-Jahre-alte Menschen und Kinder können die Kliniken bei hohen Ansteckungsraten überrollen, selbst wenn “die Alten” schon alle geimpft sind. Nur 22% der Deutschen sind über 65 Jahre alt.
Wenn die geimpften Über-65-jährigen nicht mehr ins Krankenhaus müssen mit schweren Fällen, fallen etwa 70% der bisherigen Patienten weg. Dann können wir uns also für den Rest eine 3x so hohe Inzidenz leisten. Wobei, nicht ganz, die jungen Leute bleiben nämlich länger auf Intensiv (weil die länger kämpfen, und unterwegs nicht schon wegsterben und das Bett früher freimachen wie die ganz alten). Also ist wohl nur 2x so hohe Inzidenz erlaubt (grobe Schätzung). Und dann haben wir danach immer noch eine immense Herausforderung mit den 10-15% der Infizierten, die an #Longcovid leiden werden.
Und auch wenn wir demnächst Fortschritte machen beim Impfen, das Jahr wird noch schwierig werden. Prof. Drosten sagt dazu: “Die Herausforderung sei jetzt, zwei Dinge, die eigentlich gegeneinanderliefen, zu steuern. „Wir müssen die Inzidenz nach unten bekommen – und gleichzeitig impfen. Wir werden in eine Situation kommen, wo wir große Teile der Risikogruppen geimpft haben und es dann Kräfte geben wird, die sagen, dass es jetzt keinen Grund mehr für Einschränkungen gibt. Letzteres wird allerdings eine Fehleinschätzung sein, denn wir dürfen grundsätzlich keine sehr hohe Inzidenzen zulassen. Auch nicht bei den Jüngeren“, sagte der Wissenschaftler weiter.“
Bleibt die Frage, ob unsere Politik die Dringlichkeit versteht (wir müssen JETZT handeln, wo es noch nicht schlimm ist) und den Mut hat, das auch umzusetzen.
Die einzige valide EXIT-Strategie ist “Elimination” habe ich schon letzte Woche geschrieben, daran hat sich nichts geändert. Möge die science-based-policy mehr Einfluss aus die Politik haben in Deutschland!
Lesetip 1
Lesetip 2
In “the atlantic” ist ein sehr guter Artikel über die Mutationen erschienen, und es gibt eine deutsche Übersetzung dazu.
2 thoughts on “Mutation B.1.1.7 ist fast wie wenn eine neue Pandemie starten würde (während die letzte noch nicht rum ist)”
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