Im gestrigen Beschluss der Ministerpräsidenten-plus-Merkel-Gespräche steht:
“Erst wenn eine »stabile« Inzidenz von höchstens 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohnern binnen sieben Tagen erreicht ist, sollen weitere Öffnungen durch die Länder folgen.”
(Quelle)
Endlich hat man sich dazu durchgerungen eine Zielinzidenz zu nennen statt immer nur ein Datum zu nennen. Als #nocovid Fan sind mir die 35 natürlich immernoch viel zu hoch (das Ziel sollte <10 sein), aber ich halte mich mal am Wort “stabil” fest.
Eine offensichtlich taktische Lücke in dieser Formulierung ist auch, dass es keine Angabe gibt, auf welcher Bezugs-Fläche die Inzidenz 35 berechnet wird. Von ganz Deutschland? Oder gilt das per Bundesland oder Landkreis? Wer hier schon länger mitliest weiss, dass die deutschlandweite Inzidenz keine gute Meßzahl für die Ausbreitung des Virus ist. Das ist ein Megaschlupfloch für die Landesfürsten…
Wir müssen im Hinterkopf behalten, dass in den nächsten Wochen die B.1.1.7-Variante einen Großteil des Infektionsgeschehens übernehmen wird (die Frage ist nur WANN nicht OB), sodass alleine aus dieser Sicht eine “stabile” Inzidenz am 7.3.2021 eher unwahrscheinlich ist (weil die Variante wesentlich ansteckender ist, und bald die Zahlen wieder steigen werden).
Wie kommt man auf die Idee für “Inzidenz 35 am 7.3.”?
Bisher wurde von der Bundes-Politik immer “Inzidenz 50” als Ziel formuliert. Jetzt wollen wir also 35. Warum? Und warum am 7.3.2021?
Interessanterweise ergibt sich der deutschlandweite Inzidenzwert von 35 exakt am 7.3.2021, wenn man vom heutigen Tag an ganz simpel die aktuelle Sink-Geschwindigkeit von -19% pro Woche weiterlaufen lässt:

Dies setzt natürlich voraus, dass sich der Trend auch so fortsetzt, und Voraussetzung dafür ist, dass man keine Lockerungen umsetzt. Jede Lockerung vom aktuellen Niveau wird die Sink-Geschwindigkeit verlangsamen – und wir werden die 35 am 7.3.2021 verfehlen. Denn mit einer Veränderungen der Maßnahmen verändern wir immer nur den Trend der Inzidenz, nicht den Inzidenzwert selbst (siehe Blogpost “Die mathematischen Grundlagen der Pandemie” vom November).
Gedankenexperiment: Es geht so weiter wie bisher
Bleiben wir mal optimistisch und gehen davon aus, dass sich die aktuelle Lockdown-Wirkung noch 24 Tage bis zum 7.3.2021 fortsetzt. Wie sähe dann die Lage aus?
Wir gehen aus von den Inzidenzen von heute und der Entwicklung der letzten 14 Tage (Landkreise im abgedunkelten Bereich wachsen):

Heute liegen also nur 9% der Landkreise (36) unter dem Inzidenz-Wert 35 (grüne/gelbe Zone).
Am 7.3.2021 würde das dann so aussehen, wenn wir vom heutigen Inzidenzwert ausgehen und die Entwicklung der letzten 14 Tage fortschreiben für die nächsten 24 Tage:

Jetzt liegen etwas mehr also die Hälfte der Landkreise in der grünen/gelben Zone. Wenn man heute mit dem 7.3. vergleicht, sieht das so aus:

55% der Landkreise, etwas mehr als die Hälfte, würde dann unter 35 liegen (grüne/gelbe Segmente), weitere 15% lägen noch unter 50. Fast 1/3 der Landkreise läge immer noch über oder weit über 50 (=”Risikogebiet”, sagt das RKI).
Als Landkarte würde das dann so aussehen:

Eine sehr “bunte” Republik, die nur zur Hälfte unter 35 liegt (grün, gelb). Ein Drittel der Nation ist immer noch “Risikogebiet”. Ist das ein guter Ausgangspunkt um flächendeckend die Maßnahmen zu beenden?
Man wird für das Verhängen und Beenden von Maßnahmen irgendwann endlich auf ein System wechseln müssen, dass die regionale Inzidenz und deren Wachstum beachtet. Sowas deutet sich ja auch im Beschluss von gestern schon an.
Wie realistisch ist meine Projektion?
Bei meiner Projektion würde sich – von den Landkreisen für ganz Deutschland hochgerechnet – eine Inzidenz von 48 ergeben am 7.3.2021, also nicht 35 wie oben aus den gesamt-deutschen Zahlen abgeleitet (aktuell sind wir bei 71).
Dies liegt daran, dass ich hier jeden Landkreis einzeln fortschreibe, und, dass bis dahin das (exponentielle!) Wachstum in den aufstrebenden Landkreisen den deutschlandweiten Abwärtstrend gestoppt hätte, am 14.3.2021 (also eine Woche später) kommt bei dieser Projektion ebenfalls 48 als deutschlandweite Inzidenz heraus (also ein Seitwärtstrend). Das ist wahrscheinlich ein bisschen zu pessimistisch abgeschätzt.
Bis zum 7.3.2021 wird sich in vielen Landkreisen die tatsächliche Entwicklung nochmals verändern, aber wenn man auf die Trends der Landkreise der letzten 4 Wochen schaut, sieht man, dass der aktuelle Trend sehr beständig ist, die Linien laufen alle seitwärts seit Mitte Januar, die Anzahl der Landkreis im Wachstum ist ständig bei 80-100:

Dieser Trend der letzten 4 Wochen lässt übrigens auch nicht erwarten, dass sich das Absinken der Inzidenzen in Deutschland jetzt plötzlich beschleunigen würde…
Zusammenfassung
Das Ergebnis dieser Betrachtung wäre also: Am Ende dürften wir deutschlandweit irgendwo im Bereich 35 bis 48 liegen am 7.3.2021, mit großer Streuung in den Landkreisen.
Außer….
- Es werden jetzt zu viele Maßnahmen gelockert, und das Wachstum steigt wieder an.
- Die Mutationen übernehmen bis dahin bereits das Geschehen, und treiben ihrerseits das Wachstum wieder hoch.
- Oder es passiert beides auf einmal.
Egal wie… Dass wir am 7.3.2021 “eine »stabile« Inzidenz von höchstens 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohnern binnen sieben Tagen” haben werden, halte ich beim Blick auf diese Zahlen für eher unwahrscheinlich.
PS: Tägliche Aktualisierungen
Auf der Seite Wie kommen wir auf Inzidenz 35? (täglich aktualisierte Prognose/Projektion) gibt es täglich aktualisierte Prognosedaten.

One thought on ““Stabile Inzidenz von höchstens 35” am 7.3.2021? Eher unwahrscheinlich!”
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