Corona: Pandemie Prognose Modell V3.0

Seit ein paar Tagen versuche ich ein Modell aufzubauen, mit dem man den weiteren Pandemie-Verlauf in Deutschland für einige Wochen bis Monate in die Zukunft hinein abschätzen kann. Mit dem Modell möchte ich ein Gefühl für Wirkung verschiedenerer Veränderungen von Regelungen/Verhalten auf den weiteren Verlauf entwickeln.

Als Gesamtgesellschaft haben wir praktisch nur eine Möglichkeit auf den weiteren Verlauf einzuwirken: Indem wir durch Verhaltensveränderungen den R-Wert verändern. Verschärfungen senken den R-Wert (ebenso wie Schnelltests oder Impfen), Lockerungen steigern ihn. Das Problem bleibt dabei, dass sich die Ausbreitung des Virus exponentiell vollzieht und kleine Änderungen schon nach wenigen Wochen zu immensen Wirkungen führen können, was im Alltag schwer einzuschätzen ist. Deswegen also ein mathematisches Modell.

Einige Proberechnungen/Szenarios finden sich hier.

Update 18.3.2021: Inzwischen gibt es mehrere Updates des Modells, z.B. hier .

Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen (Mark Twain)

Nach meiner Beobachtung ist die Wirkung von exponentiellen Prozessen auch nach einem Jahr Pandemie immer noch nicht vollständig in der öffentlichen Diskussion durchgedrungen. Deshalb nun dieser Versuch, das Verständnis zu verbessern.

WICHTIG: Dies ist ein modell-basierter Beitrag zur Debatte um Corona und dem Umgang damit. Ich stelle hier ein sehr einfaches und damit nachvollziehbares Berechnungsmodell vor, in das sich interessierte Leser eindenken können, mit dem man “spielen kann” und das auf ganz einfacher Mathematik basiert. Dies ist ein bewusster Gegenentwurf zu den komplexen Modellen der Epidemiologen, in die man als Laie nicht reinschauen kann.

Ich bitte um Kommentare, Kritik, Verbesserungsvorschläge. Die Google Sheet Datei ist öffentlich einsehbar (Link am Ende des Artikels). Dabei freue ich mich über jeden, der mir nachvollziehbar erklärt, wo ich zu pessimistisch oder zu optimistisch rechne.

Annahmen des Modells

Bei der Entwicklung bin ich von folgenden Ausgangswerten und Annahmen ausgegangen:

Mein Modell teilt die Bevölkerung in 5-Jahres-Gruppen auf und rechnet für jede Altersgruppe eine eigene Pandemie. Ich tue also vereinfachend so, als würde jede Infizierte nur Personen aus der gleichen Altersgruppe anstecken. Meinem Modell geht vereinfachend davon aus, dass es in einer Altersgruppe ab 80% Impfquote keine Ansteckungen mehr gibt und dass eine Impfung 100% vor Ansteckung schützt. Die höhere Sterblichkeit bei B.1.1.7 ist bisher mangels Datenbasis nicht eingerechnet. Damit rechne ich also insgesamt eher zu optimistisch.

Ich gehe von den RKI-Altersgruppen-Inzidenz-Daten bis KW 7/2021 aus und rechne dann jede Woche iterativ weiter. Dabei gehe ich davon aus, dass 30% der Fälle in Woche 7 bereits die Mutationen sind, die sich (unter Lockdown) alle 2 Wochen verdoppeln (RMutation=1,2). Die anderen 70% sind der „Wildtyp“, der im Lockdown jede Woche um ca. 20% absinkt. Cornelius Römer hat dieses Konzept hier mit den aktuellen Werten der Stadt Köln gezeigt. Cornelius kommt im Tagesspiegel für den Wert der Inzidenz Ende April auf 133 bei Lockerungen Anfang März. Mein Modell kommt auf 159 am 29.3.2021. Nahe dran also.

Die Formel für die Berechnung einer Alters-Inzidenz für eine Woche lautet:

t: die Kalender-Woche
nAlter(t): Inzidenz je Kalenderwoche für eine Altersgruppe
R7-Tage:Der 7-Tage R-Wert (z.Zt. RWildtyp=0,85, RMutationen=RWildtyp +0,35)
iHerde: Herdenimmunität (ich verwende hier 80%)
qAlter(t): Die Impfquote für eine Altersgruppe in der betreffenden Kalenderwoche
kSaison: Saisonalität zwischen 100% (Winter) und 80% (Sommer), Sinuskurve von April bis September
kMassnahmen: Absenkung der Ansteckung durch z.B. Schnelltests
Der 7/4 Exponent rechnet die R-Wirkung von 4 Tage Zykluszeit auf eine Woche um

Bei den Impfungen gehe ich, ähnlich wie das Modell der DIVI, davon aus, dass bis Ende Juni alle Erwachsenen über 35 geimpft sind, alle anderen Erwachsenen bis Ende August und die Gruppe U18 ab 1.9. geimpft werden kann (außer 0-4 Jährige).

Dafür sind ab Mai fast 3 Mio. Impfungen pro Woche nötig.

Das liegt noch unter den Planungen für die Impfungen (Quelle zdf.de). Ob das pessimistisch oder optimistisch ist möge jeder selber entscheiden.

Mio. Erstimpfungen in meinem ModellMio. Erstimpfungen geplant
Q114,717
Q254,262
Q351,993
Q45,957

Um die Belastungen der Kliniken und Intensivstationen vorhersagen zu können ist ein Schlüsselproblem, für unsere Inzidenzen (die ja nur ein Abbild der wahren Infektionszahlen sind, weil es eine Dunkelziffer gibt) Wahrscheinlichkeiten zu haben, wie viele davon ins Krankenhaus müssen, auf die Intensiv-Station oder versterben.

Mein Modell geht dabei von folgenden Werten aus:

Die Verstorbenen pro Fall (“Case Fatality Rate”) kann ich mir mit “Todesfälle mit Coronavirus (COVID-19) in Deutschland nach Alter und Geschlecht” aus dem RKI Bericht berechnen. Damit kann mein Modell die Zahl der Verstorbenen der zweite Welle vom RKI (schwarze Linie) schon gut “nachzeichnen”:

Schwieriger wird es für die Hospitalisierungen und Intensivpatienten. Aus Daten der CDC habe ich mir eine Altersverteilung der Patienten herausgesucht, die Intensivpatienten sind jeweils ein 1/7 davon pro Altersstufe. Damit kann ich die Belegung der Intensivbetten (schwarze Linie sind die Daten von DIVI) der zweiten Welle auch gut nachfahren:

Wenn Sie bessere Case-Based-Zahlen haben, lassen Sie es mich wissen!

Darüber hinaus können in meinem Modell die Wirkung von Schnelltests und von R-Änderungen durch Maßnahmen-Lockerung oder Verschärfung als Eingabeparameter verwendet werden:

Der R-Wert für die Mutationen ergibt sich jeweils aus dem R-Wert des Wildtyps mit RMutationen=RWildtyp+0,35. Dies macht man so, weil wir alle ein Gefühl dafür haben, welche R-Werte für den Wildtyp eine bestimmte Lockdown-Situation erzeugt. Im Januar/Februar lagen wir etwa bei 0,85 (sinkende Inzidenz), im “Lockdown Light” im November etwas bei 1 (gleichbleibende Inzidenz). Mit dem Wildtyp als dominierender Variante müssen wirkungsvolle Lockdowns wesentlich härter werden.

Die im Screenshot gezeigten R-Werte entsprächen einer Lockerung der Lockdown-Maßnahmen etwa zum 1.4.2021. Dabei ergeben sich folgende Inzidenzen und Fallzahlen:

Die Kliniken und Intensivstationen würden damit nochmal in so einen Peak reinlaufen wie an Weihnachten 2020:

Aber mit dem Unterschied, dass die Anzahl der Toten nicht wieder erreicht wird, weil die besonders betroffenen älteren Jahrgänge bereits geimpft sind.

Vergleich mit DIVI Modell

Zum Vergleich: Im Modell der DIVI würde das gleiche Szenario keine Überlastung der Intensivstationen berechnen (blaue Linie).

Wie das bei den im Mai anfallenden Fallzahlen (400.000 Fälle pro Woche, davon 150.000 über 35 Jahre, s.o.) gehen soll, ist mir ein Rätsel – außer das DIVI Modell rechnet mit viel weniger Intensivpatienten-Anteil als ich in den mittleren Erwachsenen Altersgruppen, die bis Mai noch nicht geimpft sind. Leider hat DIVI bisher keine Möglichkeit gegeben, in das Modell tiefer hinein zu schauen.

Anmerkungen zu den Graphen

Für die nächsten 8 Wochen dürften die Ergebnisse schon ganz gut belastbar sein. Bis Mai wird es sicher noch so viele Veränderungen geben (besser & schlechter), dass die Kurven so nicht eintreffen werden, aber der weitere Verlauf ist ein Indiz dafür, wo es hingeht bis zum Sommer.

Link zum Google Sheet

Das aktuelle Google Sheet steht hier zur Verfügung:

https://docs.google.com/spreadsheets/d/1w5mlpbYflvguEHcWW38IlnsHrRaSZk0PMD_B4mZCNV0/edit?usp=sharing

Feedback bitte an: https://twitter.com/dpaessler

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG