Heute vor einem Jahr: Mein “Oh Shit”-Moment. Und heute: Déjà-vu!

Heute vor einem Jahr habe ich das erste Mal hier im Blog über Corona geschrieben unter dem Titel Die Corona-Epidemie und – Oh Shit! – was da auf uns zukommt…. In diesem Jahr sind 53 Blog Artikel in Kategorie “Covid 19” entstanden, also fast genau jede Woche einer. Seit einem Jahr schreibe ich über exponentielles Wachstum, Daten, Zahlen, Graphen und die Mathematik der Pandemie. Ich habe nochmal ein paar von den alten Posts gelesen und da sind mir ein paar Dinge aufgefallen, über die ich kurz was schreiben möchte.

Am Ende werde ich feststellen müssen, dass in unserem Land vor einem Jahr besser auf zahlenbasierte Vorhersagen gehört wurde — obwohl diese damals auf viel wackeligeren Füßen standen.

Vorspiel: 6.3.2020

Am 6.3. hatte ich in einem Tweet die Schulschliessungen am 16.3. auf den Tag genau vorhergesagt – 10 Tage vorher, basierend auf Zahlen.

8.3.2020

Aus meinem ersten Blogpost, der sich auch wieder viel auf Zahlenmaterial bezieht:

Schon am 8.3.2020 war klar, dass Schulen&Kindergärten genauso an der Verbreitung des Virus beteiligt sind wie die Welt der Erwachsenen. Wo sich Menschen lange und innen treffen wird angesteckt. Ganz simpel. Woher das Gerücht kommt, dass “die Schulen sicher sind” bleibt mir bis heute ein Rätsel. Im November habe ich in einem Blogpost gezeigt, dass man das Ende der Herbstferien aus den Infektionskurven der Bundesländer herauslesen kann.

Und jetzt machen wir gerade wieder den gleichen Fehler: Während im ganzen Land die Inzidenzen hochgehen, machen wir auf breiter Front die Schulen auf? Je schneller und weiter wir die Schulen aufmachen, umso schneller werden wir sie wieder zu machen müssen! Und dabei müssen wir nur noch über 2-3 Monate kommen, bis die Wirkung der Impfungen die Oberhand übernimmt.

9.3.2020

Einen Tag später hatte ich ausführliche Überlegungen über den weiteren Verlauf angestellt.

Im Rückblick klingt das ganz simpel, aber damals habe ich viele Kommentare bekommen, dass ich das viel zu pessimistisch sehe.

Weiter schrieb ich: “Reisen, Tourismus und Konferenzen werden in großem Rahmen (und immer wieder!) zum Erliegen kommen. Hotels, Restaurants, Taxis, Ubers, AirBnB sind keine guten Geschäftsmodelle für diese Phase. Die Staaten werden z.B. ihre Fluglinien retten müssen, usw. Ausbrüche in Altenheimen werden zu Horror-Stories. Bis spätestens April wird es in mehreren Hotspots auf der Welt zu unansehnlichen Überlastungen der Krankenhäuser kommen. Wenn es zu “Lockdowns” kommt… … werden Firmen in Schieflagen kommen, einige wird es umhauen, … werden Lieferketten beschädigt und die nachgelagerten Unternehmen ebenfalls große Probleme bekommen (egal wo auf der Welt die sind)”

All das hat sich ziemlich genau so ergeben. Leider.

14.3.2020

Unter dem Titel “Ausgangssperren (“The Lockdown”) wegen Covid-19 kommen. In Deutschland. Bald.” habe ich auch den Start der Einschränkungen im Alltag auf den Tag genau erwischt. Hey, ich hatte nen Lauf. 🙂

Eigentlich leben wir seit dem März 2020 unter durchgehenden Beschränkungen.

Die zweite Welle kam dann auch, und wir haben sie nicht gut gemanagt, hätten im Oktober viel früher einschreiten müssen.

Drei Stunden nach meinem Blogpost am 14.3. mit der Ankündigung von Lockdowns kam dann eine Nebelkerze vom Gesundheitsministerium (“es wird behauptet, das BMG würde massive Einschränkungen des öffentl. Lebens ankündigen. Das stimmt NICHT”), die dann 11 Stunden später von der Realität überrollt wurde:

Das war kein gutes Omen. Auch danach ist vieles im Bundes-Gesundheitsministerium ja nicht gerade ideal abgelaufen.

18.3.2020

Am 18.3. war dann abzusehen, dass es zu Ausgangssperren kommen würde, die dann auch am 22.3. kamen.

Auch hiermit lag ich richtig. Ich habe dann auch angefangen Berechnungen anzustellen… Ich schrieb:

Am Ende waren es nur 7.000 und nicht 26.000, weil sich die Menschen in Deutschland dankenswerterweise auch schon vor dem offiziellen Lockdown schon anders verhalten haben. Deswegen sind uns zwei Verdopplungszyklen erspart geblieben, die ich mit eingerechnet hatte. Und wir hatten damals auch noch eine größere Dunkelziffer (durch zu wenig Testen).

Dann habe ich noch berechnet, dass wir bis Ende April 320.000 bestätigte Fälle haben werden.

Damit lag ich nur noch um den Faktor 2 daneben (für so eine Hochrechnung finde ich das eigentlich ganz gut, denn es sollte ja maßgeblich zeigen, wohin der Trend führt):

20.3.2020

Am 20.3. – zwei Tage vor dem Lockdown – hatte ich für den Chefarzt der Notaufnahme in Fürth, Prof. Dormann, ein Excel Tool gebaut, mit dem man die Belastung der Intensivstationen vorberechnen kann. Damals kamen wir auf ca. 8.000 bis 10.000 Fälle Mitte April für Deutschland.

Damit lagen wir ca. 50% zu hoch (weil, wie oben erwähnt, die Mitbürger schon vor dem Lockdown zu Hause blieben, was wir damals nicht einrechnen konnten), also bei dem Ausmaß an Unsicherheiten auch ein brauchbares Ergebnis um die möglichen Größenordnungen zu berechnen. Man muss sich vor Augen halten: Ohne Lockdown hatten wir eine Verdopplung der täglichen Neuinfektionen alle 3-4 Tage. Wenn wir den Lockdown NUR eine Woche später gestartet hätten (=2x Verdopplung, also eine Vervierfachung) wäre die Überlastung der Kliniken nicht aufzuhalten gewesen. Mit unseren Berechnungen wollten wir genau das visualisieren. Anderswo gab es diese Berechnungen wohl auch, und es wurde von der Politik reagiert.

21-23.3.2020

In einem Hackathon-Wochenende mit mehr als 20 Beteiligten haben wir aus diesem Rechenmodell dann ein Vorhersagetool geschrieben und ins Netz gestellt, mit dem man für eine Region/Landkreis eine individuelle Klinikbelastungs-Vorhersage machen konnte: covidcare.de

21.3.2020

Mit Meine Arbeitshypothese für den weiteren Verlauf von 2020 soll’s dann für heute auch genug sein mit einem Rückblick.

Hier schrieb ich: “Ende März beweist uns Italien, dass ein Lockdown tatsächlich die Anzahl der Neuinfektionen absenken kann. Das ist der Schlüsselmoment! WENN das Absinken in Italien ab ca. 24.3. NICHT stark genug eintritt, können wir alles weiter unten vergessen, dann sind wir fu*ed.

Zu dem Zeitpunkt war der Beweis noch nicht erbracht, dass Lockdown tatsächlich die Ausbreitung genügend stoppen können.

Und weiter: “Lockdown-Dauer ist jeweils 4-6 Wochen, evtl. auch 8 Wochen, dann langsame Lockerung (man will nicht sofort eine zweite Welle starten). Viele Einschränkungen im öffentlichen Leben bleiben aber das ganz Jahr über bestehen (Schulen öffnen erst wieder im Herbst?). Social Distancing und Home-Office (wo möglich) wird die Regel bleiben (“We don’t return to normal”)

War ja auch ganz gut getroffen…

Und wo sind wir jetzt – ein Jahr später?

Die Zahlenfüchse zeigen wieder in ihren Vorhersagen, dass wir in eine dritte Welle reinreiten, wenn wir jetzt zu schnell aufmachen.

Und mein Modell sieht auch so ähnlich aus, eine massive 3. Welle startet Ende März/April. Diese wird nicht so tödlich wie die 2. Welle (weil “die Alten” geimpft sind), trifft aber die “Mittelalten”:

Dabei müssten wir nur noch 3-4 Monate durchhalten, bis wenigstens ein großer Teil der Menschen geimpft ist.

Aber das scheint politisch nicht gewollt zu sein. Leider. Es wird geöffnet, gelockert usw. Auch wenn wir Zahlenleute mit mathematischer Genauigkeit wieder vorhersagen können, dass eine dritte Welle kommt. Je mehr wir öffnen desto schneller werden wir wieder zumachen müssen im April.

Am Ende wird es dann wieder heißen “das konnte keiner kommen sehen” und “wir haben das Virus unterschätzt”. Da ist es, das Déjà-vu.

https://twitter.com/EckerleIsabella/status/1367761467718701058

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG

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