Der Osterlockdown bringt (fast) nix: Maßnahmen nur für ein paar Tage “verpuffen” in der Pandemie

Die Ergebnisse der Nachtsitzung von gestern sind – mal wieder – kein großer Wurf. Wir hängen an die Ostertage vorne den Gründonnerstag noch als Feiertag dran, bitten darum keine Reisen zu unternehmen und keine Gottesdienste zu veranstalten. Und das bezeichnen wir dann als “drastischen Lockdown”. Ach ja, und mit der 100er-Notbremsen-Regelung stellen wir noch sicher, dass alle Landkreise, die noch unter 100 sind, auf jeden Fall auch noch auf über 100 wachsen werden.

Damit haben wir praktisch entschieden, dass die 3. Welle auch auf jeden Fall keine kleine Welle wird. Selbst wenn wir in 2 Wochen vernünftigere Entscheidungen treffen würden, das ist nicht mehr aufzuhalten.

Das möchte ich hier gerne mit Zahlen/Prognosedaten nachvollziehbar machen.

Wichtig: Es folgen Prognosen aus einer Modellrechnung. Wie bei allen Modellrechnungen gehe ich dabei von Annahmen aus, mit denen ich in die Zukunft rechne. Meine Annahmen sind unten dokumentiert und sind mein “best effort”, ich kann damit aber auch falsch liegen. Ich bitte um Feedback, wenn jemand mit anderer Gedankenkette zu anderen Annahmen kommen würde.

Wir können nur den R-Wert direkt verändern, nicht die Inzidenz

Beim Blick in die Zukunft der Pandemie muss man sich immer wieder klar machen, dass wir die Inzidenzwerte (=Anzahl der Neuinfektionen pro Zeiteinheit) nicht direkt beeinflussen können. Diese sind immer das Ergebnis der aktuellen Inzidenz weitergerechnet um die aktuelle Ansteckungsrate der Infektion: Das ist der R-Wert. Aktuell liegt dieser Wert in meinem Modell bei 1,18, das heißt 100 Infizierte stecken 118 Personen an, und das alle 4 Tage. Pro Woche entstehen so aus 100 Infektionen 133 neue Infektionen (100*1,18^7/4), das sind sozusagen die aktuellen ~30% Wachstum zum gleichen Tag der Vorwoche, die wir aktuell sehen.

Die einzige Handhabe, die wir als Gesellschaft haben um die Entwicklung der Pandemie zu beeinflussen, ist den R-Wert zu verändern in dem wir uns anders verhalten (oder mit Impfungen, aber das läuft ja gerade nicht sooo gut). Erst wenn wir den R-Wert unter 1 gedrückt haben, fallen die Inzidenzen, so wie das im Januar und Februar gewesen ist.

Weil B.1.1.7 aber viel ansteckender ist und jetzt die weite Mehrzahl der Infektionen ausmacht, reichen die Maßnahmen vom Januar aber nicht mehr, um das Wachstum zu verhindern.

Wir basteln uns einen R-Wert

Um eine Prognose für die nächsten Wochen und Monate zu machen, brauche ich eine Folge von R-Werten für die nächsten Wochen. Wir müssen also aus dem aktuellen und aus historischen R-Wert abschätzen, wie sich der R-Wert in den nächsten Wochen entwickelt. Dann können wir damit mein mathematisches Modell füttern, dass uns die sich daraus ergebenden Inzidenz/Fallzahlen und Klinikpatienten/Sterbefallzahlen berechnet.

Wenn ich die Entscheidungen von heute nacht richtig verstehe, wird versucht auf drei Arten auf den R-Wert einzuwirken:

1. Notbremse in Landkreisen über 100

Dabei soll der R-Wert in dem Landkreis auf den Wert von Ende Februar gesenkt werden, wenn die Inzidenz über 100 liegt. Um die Wirkung der Notbremse in meiner deutschlandweiten Prognose nachzubauen, kombinieren wir den aktuellen R-Wert für die noch offenen Landkreise mit dem Ende-Februar-R-Wert für die Landkreise über 100.

Daten: @risklayer, Grafik: eigene

Aktuell liegen schon 211 Landkreise über 100, also knapp mehr als die Hälfte. In der nächsten Woche tippe ich mal auf 3/4 und die Folgewoche 7/8. Das würde natürlich nur so wirken, wenn auch alle Landkreise tatsächlich die Notbremse umsetzen.

Das Problem: Es gibt keine Entscheidung dafür, die Schulen komplett zu schließen. In vielen Landkreisen wird diese Notbremse-Regelung nicht oder nur teilweise auf die Schulen und Kitas angewendet. Laut einer Studie bringen Schulschließungen eine R-Wert Reduzierung um -0,2 bis -0,4. Rechnen wir hier mal optimistisch mit halboffenen Schulen und Kitas, und erhöhen den R-Wert um 0,1 (außer in den Ferien).

Die Schulen zu schließen ist m.E. einer der letzten größeren Einzel-Hebel, die wir noch haben, evtl. spielt sonst nur noch eine Home-Office-Pflicht noch in dieser Liga. Um den R-Wert um 0,1 zu senken braucht es sonst einen ganzen Reigen an Maßnahmen, siehe o.g. Studie, und viele davon haben wir schon umgesetzt.

2. Fünf Tage Kurz-“Lockdown-chen” über Ostern

Für etwas länger als einen Reproduktionszyklus sollen die Kontakte deutlich abgesenkt werden. An 5 von 7 Tagen der Woche soll der R-Wert sinken, auf was, kann man nur schätzen. Ich werde die Osterwoche mit 80% des R-Werts besetzen, um das optimistisch abzuschätzen.

3. Und sonst?

Die anderen Maßnahmen (Testpflicht für Rückkehrer aus dem Ausland, mehr Tests in Schulen/Kitas) drücken den aktuellen R-Wert nicht, sie verhindern m.E. nur, dass er noch weiter hochgeht.

Und jetzt Zusammenrechnen

Damit haben wir einen Abfolge von R-Werten für die nächsten Wochen (mein Modell geht von RWild des Wildtyps aus und berechnet mit dem steigenden Anteil der B.1.1.7 Mutation den sich ergebenden Gesamt-R-Wert).

Und auch noch wichtig: Die veränderten R-Werte “wirken” erst in der Folgewoche, d.h. die Wirkung der Oster-Aktion sehen wir erst in der Woche ab 5.4.2021.

Ab ins Modell damit

Nun packen wir diese R-Wert-Reihe in mein Modell, und das Ergebnis ist nicht schön:

Wir haben tatsächlich nur in der Woche nach der Osterwoche ein kurzes spürbares Sinken der Zahlen, ansonsten geht es einfach weiter rauf. Nur der Impf-Effekt und Saisonalität ab Mai senken ganz langsam den R-Wert

In der Fallzahlen-Prognose ist das nur als kleiner Haken zu sehen, danach geht’s munter weiter bergauf.

Das bringt uns also alles nicht wirklich weiter: In der 3. Welle gäbe es fast 40.000 Todesfälle und fast 1/2 Mio Longcovid-Fälle, die Welle in den Intensivstationen ist 2,5 mal so groß wie im Dezember.

Alternative: Nach den Ferien die Schulen zu lassen

Wenn wir die Schulen komplett zu lassen nach den Ferien, und die o.g. Korrektur von +0,1 weglassen, oder eine andere Methode finden, den R-Wert nach den Ferien um 0,1 zu senken (u.a. Home-Office-Pflicht?), dann sieht das so aus:

Damit kippt das ganze System in den Sinkflug!

Die dritte Welle läuft bis in den Juli, trifft die Krankenhäuser wie die zweite Welle und die Anzahl der Todesopfer sinkt auf etwa die Hälfte.

Also man kann sagen: Diese Aktion an Ostern macht viel Wind, bringt aber langfristig nahezu nix. Für eine echte Lösung braucht es mehr Konsequenz. Und die Notbremse ab Inzidenz 100 bleibt völlig “alternativlos”, sonst kippt das alles nochmal weiter nach oben.

Dokumentation: Komplette Modellläufe

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG

5 thoughts on “Der Osterlockdown bringt (fast) nix: Maßnahmen nur für ein paar Tage “verpuffen” in der Pandemie”

  1. Hallo,
    was würde ein Lockdown von 2 oder 3 Wochen bewirken? Das Ergebnis wäre mAn. sehr interessant. Können Sie das mal durchrechnen? Ich verwende Simulationen immer auch zur Optimierung von Ergbnissen (FEM). Ziel wäre auf eine Neuinfektionsrate von ca.20/100000 hinzukommen. Danke im Voraus. Johannes aus SC

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  2. Hallo,
    warum wird ständig mit R-Wert(en) gerechnet?

    Stark vereinfacht:
    Geht man von einem exponentiellen Wachstum aus, bestimmt man die aktuelle Wachstumsrate an Infektionen pro Zeitraum. Zusammen mit der Gesamtzahl an Infektionen erhält man so ( bei gleicher) Wachstumsrate einen Prognosewert, den man dann später wieder mit der Anzahl an Infizierten vergleichen kann. Daraus lässt sich wiederum eine (ggf. veränderte) Wachstumsrate W ableiten, die im Vergleich mit der vorherigen weitere Interpretationen nahe legt.
    Grundsätzlich bei … exp(Wt)
    W>0 Zunahme
    W=0 Konstanz
    W<0 Abnahme

    Welchen Vorteil hat die Berechnung eines R-Wertes, zumal oft nicht klar ist, welche Berechnungsmethode angewendet wird.

    MFG

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