Die Saisonalität kann eine erheblichen Verlauf auf die Fallzahlenentwicklung der Pandemie haben — aber nur dann, wenn der durch das Verhalten bzw. die Maßnahmen „erzeugte“ R-Wert bereits im Bereich um 1 liegt: dann können im Frühling aus steigenden Zahlen wie von Geisterhand sinkende Zahlen entstehen, ohne dass sich das Verhalten geändert hat. Wir laufen seit Monaten beim R-Wert um die eins herum. Jetzt sinken die Zahlen schneller als die Impfungen das alleine geschafft hätten, und im blödesten Fall entsteht bei den Entscheidern der Eindruck: ach, guck mal, die Pandemie läuft aus…. Oder – noch schlimmer – man öffnet auch noch dies&das. Im September dann, wenn die Saisonalität wieder ausläuft, da geht‘s dann „ganz plötzlich“ wieder bergauf, und zwar schnell, weil man hat ja noch gelockert. Das konnte ja keiner ahnen! Ach ja, und dann wir schicken im September genau in der Situation Millionen ungeimpfte Kinder in den Präsenzunterricht und die Kitas, weil ja die Inzidenz so niedrig ist.
Zeit sich mit der Saisonalität zu beschäftigen.

In der warmen Jahreszeit sinken die Ansteckungsraten, u.a. weil wir mehr Zeit draußen verbringen, durch mehr UV-Licht, geringere Luftfeuchtigkeit und andere Effekte.
Die Saisonalität hat die stärkste Wirkung, wenn der R-Wert durch das Verhalten der Bevölkerung bzw. durch Maßnahmen bereits knapp über R=1 liegt. Zum Beispiel wird aus R=1,15 (entspricht ca. 30% Wachstum der Neuinfektionen pro Woche) mit einer Saisonalität von nur 20% ein R=0,9, also ein Absinken der Neuinfektionen um 20% pro Woche. Liegt der R-Wert bereits deutlich unter 1 (Absinken) oder über 1 (Ansteigen), dann ist die Saisonalität nicht so deutlich sichtbar und kann schnell von anderen Effekten überdeckt werden.
Ob der Zahlenwert der Saisonalität 10%, 20% oder 40% beträgt, wissen wir nicht. Die meisten Modelle arbeiten mit 20%, so auch mein Modell.

Deutschland liegt seit Monaten mit dem R-Wert um eins herum, daher ergibt sich im April ein Absinken der Neuinfektionen das stärker ist, also es die bisherige Impfrate (nicht mal 10% sind vollständig geimpft) erzeugen könnte. Beide Effekte zusammen könnten uns bis Ende Juni/Anfang Juli unter deutschlandweite Inzidenz 50 führen – wenn wir jetzt nicht gleich durch Lockerungen den R-Wert wieder hochschrauben.
Denn: Weil im späten Frühjahr durch die Saisonalität die Ansteckungsraten sinken, fühlt es sich fast so an, als würde die Pandemie auslaufen. Dies kann zu leichtsinnigen Verhalten führen, Forderungen nach Lockerungen kommen auf.
So was ähnliches haben wir auch in 2020 gemacht, ich habe das hier mal hand-ergänzt: In Pink habe ich – modellhaft – die Absenkung durch die Saisonalität eingezeichnet. Die türkise Linie sind beständige Lockerungen durch den Sommer, der R-Wert stieg stetig immer weiter an. Im Herbst endete die Saisonalität und das Wachstum ging so stark hoch (grün), dass Anfang November der “Lockdown Light” eingeführt werden musste. Den Rest kennst Du ja. OK, das ist ein bisschen “Küchentisch-Epidemiologie” :-), aber es zeigt das Konzept.

Solange im Herbst 2021, wenn die Saison-Wirkung unweigerlich enden wird, genügend Menschen noch nicht geimpft sind (und das werden mindestens Millionen von Kindern und Jugendlichen sein, aber auch 40% der jungen Erwachsenen wollen sich nicht impfen lassen), wird die Infektionsrate wieder steigen. Wenn wir bis dahin zu viele Lockerungen eingeführt haben, und damit den R-Wert bereits von unten nahe an R=1 herangebracht haben, kippt der R-Wert im o.g. Berechnungsbeispiel dann auch schnell auf R=1,2 (=ca. 40% Wachstum der Neuinfektionen pro Woche). Was machen wir dann? Was ist der Plan? Haben wir einen Plan? Drehen wir die Sommer-Lockerungen wieder zurück? Spätestens bei Inzidenz 100 kommt die Bundesnotbremse – Willkommen Jojo-Lockdown!
Die Saisonalität wäre eine Super-Chance für uns, die Inzidenzwerte im Frühjahr/Frühsommer schnell und stark abzusenken, weil sie wie ein Nachbrenner eine Absenkung der Ansteckungen durch unsere Maßnahmen verstärken würde.
Wir “verschwenden” aber diese Rückenwind-Wirkung und verlangsamen das Absinken der Inzidenz-Werte, wenn wir jetzt gleich wieder Lockerungen einführen, wo doch das Absinken gerade erst begonnen hat.
In einer Niedrig-Inzidenz-Strategie würde man jetzt versuchen, den Schwung mitzunehmen und rasch die Inzidenz unter 10 zu senken. Und da dann halten.
Lieber Herr Paessler,
Wie immer sind Ihre Ausführungen und Modelle spannend und auch für durchschnittlich Gebildete gut zu verstehen ( manchmal mit etwas Nachdenken, aber die Matreie ist ja auch komplex.
Gut finde ich auch, dass Sie diesmal den Schwerpunkt weniger auf die Modellierung im speziellen, sondern auch den eher allgemeinen Effekt der Saisonalität abzielen (mir fallen noch ein paar Dinge ein, die sicher auch noch der Betrachtung wert sein könnten, z.B. grenzüberschreitende Vorgänge zwischen unterschiedlichen Inzidenzgebieten…).
Okay, ein paar Dinge liegen mir aber auch etwas im Magen. Der R-Wert ist eine Auswirkung und unterliegt verschiedenen Einflusskomponenten. Das gleiche gilt für die Saisonalität, die ebenfalls eher ein (sehr vielfältig) zusammengesetzter Endpunkt ist. In Ihren Ausführungen erzeugen Sie aber manchmal (zumindest bei mir) den Eindruck, es seien Stellgelder, an denen man dreht, um die Folgen zu beeinflußen. Also eine Bedeutungsumkehr von Wirkung in Ursache. Vielleicht bin ich aber auch zu doof. Doch konkret zur Saisonalität ganz allgemein: sie ist konkret als Wirkung zitiert (im Zusammenhang mit einer Zeit). Die Einflußfaktoren sind dabei aber mannigfaltig und könnten sein: Temperatur, bestimmte Verhaltensmuster, andere Umwelteffekte…oft miteinander interagierend und sich teilweise auf – oder niedersteuernd. Im speziellen für COVID sollte es z.B. die Temperatur an sich weniger sein (sonst wären die Effekte in den unterschiedlichen Klimazonen sicher deutlicher zerschneiden). Nun als Anregung: wäre es nicht gut, einmal eine Art Aufzählung verschiedener Komponenten zu machen, ihre Aktionen und gfls. Interaktionen untereinander bzw. auch Abhängigkeiten von anderen nichtsaisonalen Einflüssen darzustellen und damit einen Regelungsansatz bzw. Eine Modellierung zu fahren. Das gleiche könnte man evtl. auch einmal mit dem R-Wert versuchen., das dürfte wahrscheinlich noch viel komplexer ausfallen.
Und dann wären wir auch wieder bei Der Forderung, endlich ein Ziel für unsere COVID-Policy zu formulieren, damit man a) über die notwendigen Maßnahmen und b) Modellierungen ihrer Auswirkungen besser sprechen könnte (sofern Politik dazu überhaupt mental in der Lage ist)..
In jedem Fall von mir ein Danke, dass Sie sich nicht unterkriegen lassen. Beste Grüße Oliver Keinke
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Ich rechne auch seit einem Jahr an der Pandemie. Ich habe die (ungestützte) Vermutung, dass man als Generationszeit eher 3,5 Tage annehmen sollte. Das senkt entsprechend den R-Wert auf R’=R^(7/8) – wenn man vorher von 4 Tagen ausgegangen ist. Wenn man gleichzeitig noch annimmt, dass die Infektiosität der Erstimpfung 2 Wochen nach der Impfung etwa auf ein Fünftel sinkt (dazu gibt es Daten aus GB), dann sieht man einen stärkeren Effekt der Impfungen an der Entwicklung, entsprechend einen kleineren saisonalen.
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