Wie Deutschland von R0 zu R-Effektiv kommt (oder: Wie stoppt man Delta?)

Mit dem Übergang der Neuinfektionen von Alpha auf die wesentlich ansteckendere Delta-Mutation steigt der R0-Wert der Pandemie in Deutschland von 4 auf 6. Und das ist ein Problem. Was können wir dagegen tun?

Es folgt eine grafische Erklärung, wie wir aus R0=6 einen Alltags R-Wert von 1 machen können.

Kurzerklärung R0 und REffektiv

R0 steht für die Anzahl an Personen, die ein Infizierter ansteckt, wenn es keine Schutz- und Gegenmaßnahmen gibt, sich die Pandemie also frei austoben kann. Der Wert ist zwar vom Verhalten der Bevölkerung abhängig, also in jedem Land ein bisschen anders (z.B. Ländern, die mehr oder weniger Berührungen bei Begrüßungen verwenden, oder wo mehr oder weniger Generationen in einem Haushalt leben), aber für Deutschland können wir hier die Werte von UK verwenden.

Graphic
Quelle: BBC

REffektiv ist der Wert, den u.a. das RKI regelmäßig meldet, und der die tatsächlich stattfindenden Infektionen zählt. Diese Zahl liegt in Deutschland meist um 1 herum, mal drunter (so wie jetzt gerade, die Inzidenzen fallen), mal drüber (dann steigen die Inzidenzen).

In der folgenden Grafik sieht man, wie sich der R0-Wert (schwarze Linie) vom Wert 3 im März 2020 auf den Wert 4 im Frühjahr 2021 (während sich Alpha durchsetzte) verändert hat. Jetzt im Juni und Juli 2021 übernimmt ziemlich schnell Delta das Regiment und der Wert steigt auf 6 an – das wird eine große Herausforderung für uns werden.

In rot ist R-Effektiv gezeigt, also der tatsächliche Verlauf der Pandemie eingezeichnet. Hier sieht man, dass dieser zeitweise unter und über 1 gelegen hat und zu folgendem Inzidenz-Verlauf geführt hat:

Die Frage, die mich nun interessiert hat: Wie haben wir es in Deutschland geschafft, den R-Wert um 1 herum zu halten? Wir sind wir von einem R0 von 3 oder 4 oder 6 auf 1 runtergekommen (grüne Pfeile)?

Klar, das geht mit Lockdowns, Maßnahmen, Saisonalität, Impfungen, usw.

Aber welcher dieser Punkte hatte wie viel Einfluß?

Jetzt kommt eine vereinfachten Darstellung der Zusammenhänge anhand einer Grafik – zumindest soweit ich dieses Pandemie-Dings verstanden habe. Diese Grafik erhebt keinen Anspruch auf mathematisch/statistische Exaktheit, es mir geht darum die groben Zusammenhänge leicht verständlich darzustellen. Es geht nicht darum, ob das alles um ein paar Zehntel des R-Wertes hin oder her korrekt ist.

Über Verbesserungsvorschläge, Kritik und Korrekturen freue ich mich! Bitte gerne an @dpaessler auf Twitter.

Um diese Frage zu beantworten habe ich die verschiedenen R-Wert-senkenden Beiträge aus meinem Modell mit in die Grafik eingezeichnet, und das sieht so aus:

Um die Grafik zu verstehen, werden wir sie in mehrere Teile aufteilen:

1. Halbjahr 2020

Wir starten im März mit REffektiv von 2, die Inzidenzen steigen steil an, bis zum Lockdown. Durch die Erhöhung der Wirkung der Maßnahmen (mehr blau) sinkt REffektiv. Dann startet auch schon die Wirkung der Saisonlität (gelb), die es dann auch noch schafft, R unter 1 zu halten, als wir den Lockdown beenden. Aber dann lockern wir weiter und ab Juli nimmt der Beitrag der Saisonalität ab (gelber Pfeil). REffektiv steigt über 1, und wir lassen das leider so laufen.

2. Halbjahr 2020

Weil wir REffektiv über 1 belassen steigen die Inzidenzen immer mehr an, im Oktober immer schneller, bis wir mit dem unglücklichen “Lockdown Light” den Wert nur auf 1 bremsen können. Die Inzidenz blieb wochenlang gleich und steigerte sich im Dezember wieder. Erst der Weihnachtslockdown senkte REffektiv unter 1 und brachte die Inzidenzen bis Februar wieder runter.

Wichtig: Bis hierher hatten wir keine anderen Waffen im Kampf gegen das Virus als Verhaltensänderungen, Kontaktsperren und ähnliche Maßnahmen – und die haben wir auch noch immer zu spät angewendet. Das ist keine Ruhmesgeschichte.

Dies änderte sich erst im Q1/2021 mit den Schnelltests und den Impfungen. Hurra!

Die Phase der Alpha Mutation

Von Februar bis Mai wird die Wirkung der Impfungen endlich spürbar. Auch Saisonalität und Schnelltests helfen mit, und trotzdem braucht es noch die Bundes-Notbremse als Maßnahme, um den REffektiv-Wert wieder unter 1 zu senken.

So, und das sind wir nun, Mitte Juni haben wir immer niedrigere Inzidenzen, und alles könnte prima sein. Aber leider… Kommt Delta.

Die Phase der Delta Mutation

Delta übernimmt in wenigen Wochen das Infektionsgeschehen und erhöht damit den R0 auf 6. Diese Variante ist nochmal 50% ansteckender als Alpha! Ohne Impfung würden wir jetzt mit REffektiv über 1 dastehen – so wie fast alle anderen Länder der Welt, die weniger Impfrate haben als wir. Eine Tragödie bahnt sich an.

Leider läuft für uns auch noch die Saisonalität im September aus. In meiner Modellrechnung werden die Impfungen in Deutschland bis dahin noch nicht weit genug sein, um zu verhindern, das REffektiv wieder über 1 steigt. Die Inzidenzen steigen wieder und irgendwann werden wir mit passenden Maßnahmen wieder dagegensteuern müssen, bis die Impfungen weit genug fortgeschritten sind.

Andere Szenarien

In der Grafik oben für Juli bis Dezember zeige ich nur ein Szenario, aber es gibt auch andere.

Es könnte zum Beispiel sein, dass wir im Juni schon zu viel lockern (oder gelockert haben), dann sieht das so aus und der Anfang ähnelt dem, was wir gerade in UK verfolgen können. Ich würde das gerne vermeiden für uns!

Der “blaue” Beitrag der Maßnahmen ist ganz schmal im Sommer (siehe Markierung), es kommt zu starkem Wachstum und ein Einschreiten mit deutlichen Maßnahmen im Oktober wird nötig – und es kommt trotzdem noch zu einer Inzidenz von 400 (und einem Vielfachen in den ungeimpften Altersgruppen unter 20).

Oder es könnte auch sein, dass wir in 4-6 Monaten die nächste Mutation bekommen, die wieder irgendeinen Ausbreitungsvorteil gegenüber Delta haben wird. Im schlimmsten Fall durch eine (teilweise) Umgehung der Impfung oder/und Verstärkung der Erkrankungs-Folgen.

Zurück zur Ursprungsgrafik

Wenn wir uns im Herbst – zum Auslaufen der Saisonalität (gelb) – nur auf die Impfungen verlassen, dann dürfte REffektiv über 1 liegen. Delta ist so ansteckend, dass es m.E. ohne Maßnahmen nicht gehen wird im Herbst.

Die Impfungen (grün) sind bis dahin noch nicht weit genug, um von einem R0 von 6 auf einen REffektiv von um 1 oder weniger zu kommen. Also steigt die Inzidenz wieder an.

Weil im Herbst noch nicht alle geimpft sind, die geimpft werden wollen (insbesondere Kinder und Jugendliche) bzw. noch nicht alle Erst-Geimpften auch ihre 2. Impfung haben, würde eine völlige Öffnung zu einer großen Exit-Welle führen. Aus meiner Sicht ist klar, dass wir diese Bevölkerungsgruppen noch so lange durch Maßnahmen schützen müssen, bis die ihre Chance hatten, eine Impfung zu bekommen.

Wenn wir als Gesellschaft wollen, dass in den Schulen wenigsten halbwegs Unterricht gemacht werden kann (zumindest Wechselunterricht), müssen wir dann erklären, woher das nötige Ausmaß an Maßnahmen-Wirkung sonst kommen soll. Kneipe, Konzerte, Messen, Fitness-Center, Büros, keine-Masken-mehr-tragen UND Schule-offen, das alles geht m.E. mit Delta nicht gleichzeitig.

Den Rest an R0-Wert wird dann am Ende der Impfkampagne in 2022 bei Freigabe der Maßnahmen aufgefüllt durch die Infizierten (grau in der Grafik, bisher kaum zu sehen): die Menschen die nicht geimpft sind, oder bei denen die Impfung nicht genügend von Infektion geschützt hat. Am Ende werden alle die Infektion mal durchmachen, dann ist Corona endemisch, und sollte keine Wellen mehr geben (wenn es keine fiesen Mutationen mehr gibt).

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG

2 thoughts on “Wie Deutschland von R0 zu R-Effektiv kommt (oder: Wie stoppt man Delta?)”

  1. Hallo Herr Paessler,

    erst einmal vielen Dank für die hervorragende Aufarbeitung des Themas und der Mühe die dahinter steckt!
    Ich habe nun aber eine Frage zu der Grafik “Wie sich R0 in R-Effektiv und Gegenmaßnahmen aufteilt”:
    Sollte der Effekt der überstandenen Infektionen nicht eher größer denn kleiner werden? Auch im Hinblick auf die “Durchseuchung” unserer Nachbarländer (Benelux, Tschechien), da wird der Eintrag von außen nach Deutschland doch eher geringer.

    MfG
    Frank Schmalenberg

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    1. Danke für das Feedback. In meinem Modell hält die Immunität (als Schutz vor Neuinfektion) nur 6 Monate, daher wird diese Wirkung 6 Monate nach einer Welle wieder kleiner.

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