Die 4. Welle wird anders als die 2. und 3.

Es folgt mein Twitter-Thread als Blogeintrag. Heute also mal anders herum…

Wenn im Spätsommer oder Herbst mit Delta die 4. Welle durch Deutschland läuft wird vieles anders sein als in Welle 2 und 3. Und zwar in 4 Bereichen:

1.Mehr Dynamik
2.Weniger Tote/Intensivpatienten
3.Massive Ausfälle durch Quarantänewellen
4.Noch spätere Gegenmaßnahmen

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Im Folgenden werde ich einfach mal laut denken und ein mögliches Szenario für den Herbst zu beschreiben, um dann zu erklären, was wir tun könnten um dieses zu vermeiden oder zumindest massiv zu zähmen.

Fangen wir mit den Basisfakten an:
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A: Delta breitet sich mit einem R0 von ~6 viel dynamischer aus als Alpha. Sowas kennen wir hier noch nicht. Nicht einmal Impfweltmeister Israel ist gegen ein Ansteigen gefeit. Wenn es losgeht, geht es schnell.
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B: Keine Herdenimmunität: Im September können sich immer noch ca 30 Mio Deutsche anstecken (weil ungeimpft oder weil Impfschutz nicht 100%). Delta ist so viel ansteckender und krank-machender, dass wir in 2021 durch Impfung keinen Schutz gegen Wellen mehr schaffen können.
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C: Aerosol-Virus: Überall wo sich Menschen begegnen und/oder nahe kommen, gibt es Ansteckungen. Egal wo. In Innenräumen viel mehr als draußen. Mit Delta deutlich mehr als bei Alpha.
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D: Verschwindende Saisonalität: Bis September hilft uns die Saisonalität nicht mehr. Aber wir haben bereits viele Schutzmaßnahmen abgeschafft, weil viele Menschen denken, es wäre vorbei.
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E: Impfung schützt vor Tod/ITS: Durch die Impfungen werden wir – außer bei extremen Inzidenzen – keine Überlastung der Kliniken oder der Bestatter wie bisher in den Wellen 1/2/3 mehr sehen (aber Arbeit wird es trotzdem geben).
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F: Longcovid: Viele Menschen haben die langfristige Gefährlichkeit von Covid-19, egal ob symptomatisch oder asymptomatisch, für alle Altersgruppen (auch Kinder) noch nicht annähernd in ihrer Dimension verstanden – insbesondere im Falle von Millionen gleichzeitigen Infektionen
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G: Unterschätzung der Ausfälle: Die Auswirkungen eines sehr hohen Infektionsgeschehens (>300 Inzidenz in einigen Altersgruppen) auf unseren Alltag durch die Abwesenheiten der Personen, die akut oder longcovid-krank sind oder in Quarantäne, wird unterschätzt.
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Bei Inzidenz von 1.000/100.000 pro Woche in einer Altersgruppe (Kinder!) sind jede Woche ca. 3.000 der 100.000 Menschen akut krank/infektiös (3 Wochen Erkrankungszeit) plus 10.000 Kontakte in Quarantäne (5x Quarantäne pro Fall für 2 Wochen). Also…
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… also 11.000 = ca. 1/10 der Bevölkerungsgruppe ist ständig „weg“. Plus stetig wachsende Zahl von Longcovid-Patienten (>10% der Infizierten).
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h: Lame-Duck-Regierung: Durch Föderalismus und eine durch die Bundestagswahl bis mind. Oktober “gelähmte” Bundesregierung wird es nur in extremen Fällen eine zentral gesteuerte/synchronisierte Reaktion geben.
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Was folgt daraus?
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Auch wenn es im Moment noch nach langsamem Wachstum aussieht, bis September könnte Delta einen tierischen Lauf haben in Deutschland (siehe UK: gleiches Argument wie im März: welchen Grund sollte es geben, dass das bei uns anders kommt?).
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Es wird relativ lange kaum Gegenwehr durch regierende Stellen geben, weil Intensivstationen noch keinen Ansturm sehen werden, und man erstmal abwartet ob es tatsächlich so schlimm kommt (kann man gerade in UK beobachten).
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Der Schwerpunkt der Ausbreitung könnte zunächst bei den sehr mobilen jungen Erwachsenen liegen, die viele Kontakte haben, in Disko, Party, EM, usw..
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Dann, nach Start des Schuljahrs in Präsenz ohne ausreichende Schutzkonzepte, würde eine erhebliche Welle durch die ungeschützten/ungeimpften Schulkinder laufen. Das Kontaktverfolgungssystem wäre bis dahin nur noch Makulatur und völlig überlastet.
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Irgendwann würde man realisieren, dass alleine schon wegen ständiger Abwesenheit von 5-10% der Schüler und Lehrer kein vernünftiger Schulbetrieb möglich ist (Dauerausfälle), und man wird auf Wechsel/Distanzmodelle wechseln müssen.
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Bis dahin würde die Gesamtinzidenz bei mehreren Hundert liegen, auch viele Doppelt-geimpfte werden erkranken und man wird sich fragen müssen, wie man durch den Winter kommen will mit einem so eskalierten Infektionsgeschehen.
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Das ambulante Gesundheitswesen wird dabei eine bisher ungesehene Welle erleben und dürfte sich zum taktischen Schwachpunkt entwickeln, auch weil viele Hausärzte/Praxen durch die Zusatzbelastung der Impfkampagne bereits ausgelaugt sind.
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Dann stünde man mit bis dahin zigtausenden Longcovid-Patienten (die meisten davon Kinder und junge Menschen), einen kollabierenden Ambulanz-System und enormen Schäden durch Abwesenheiten da, und inzwischen steigen auch wieder die Patienten- und Todeszahlen an.
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Dann würde man irgendwann realisieren, dass mit Impfungen alleine das Problem nicht zu packen ist – insbesondere wenn Millionen Kinder noch keine Impfung bekommen können.
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Und man würde realisieren, dass man das Delta-Virus auch nicht einfach ohne NPI (non-phamaceutical internventions) wie Masken, Kontaktreduzierung, Homeoffice usw. durchlaufen lassen kann und/oder eine Durchseuchung der jungen Menschen riskieren darf.
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In einer meiner Modellrechnungen sieht das beschriebene Szenario in Zahlen/Graphen so aus (dies ist nur EIN Szenario, keine Vorhersage, weitere Szenarien folgen):

Aber das alles konnte ja im Vorfeld keiner ahnen.

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Alles was man tun müssten um das zu verhindern, ist die aktuellen Niedriginzidenzen mit allen Mitteln zu verteidigen und keinesfalls die Inzidenzen wieder ohne Gegenwehr über 30 oder 50 steigen zu lassen, weil wir dann schnell die Kontrolle verlieren würden.
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Originally tweeted by Dirk Paessler (@dpaessler) on June 29, 2021.

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG