Corona-Pandemie Prognose Modell V11

Seit Mitte Februar entwickle ich ein vereinfachtes mathematisches Modell mit dem Ziel, den weiteren Pandemie-Verlauf in Deutschland für einige Wochen in die Zukunft mit brauchbarer Genauigkeit abzuschätzen, zumindest soweit das Verhalten der Bevölkerung und/oder die sich ändernden Maßnahmen der Regierung abzusehen sind.

Auch ein Ausblick auf mehrere Monate ist machbar, die Ergebnisse werden aber natürlich ab 4-6 Wochen zunehmend unschärfer und können nur zum qualitativen Vergleich verschiedener Szenarien dienen, wenn man z.B. verschiedenen Maßnahmen oder den Einfluss neuer Mutationen simuliert.

Im Folgenden möchte ich die neuste Version vorstellen, die inzwischen zu einem Google Sheet mit über 50.000 Zellen angewachsen ist.

Warum wir Modelle zum Planen brauchen

Die Entwicklung einer Pandemie besteht aus zwei zentralen Anteilen: Ein Anteil sind physische/virologische/medizinische Abläufe, die bei hohen Fallzahlen mathematischen Formeln folgen, deren Schlüsselparameter (wie z.B. die Sterbe- oder Infektionsraten) wir immer besser beurteilen können. Und dann gibt es den viel schwerer vorhersagbaren Anteil: Das Verhalten der Menschen, und zwar sowohl der Bevölkerung also auch der regierenden Personen.

Wenn wir in einer Modellrechnung zumindest den mathematischen Anteil schonmal halbwegs berechnen können, wird es damit möglich die Reaktionen des Systems auf verschiedene Handlungen der Menschen zu erforschen – und im besten Fall die gröbsten Fehler zu verhindern.

Und trotzdem muss bei der Beschäftigung mit allen Modellen klar sein, dass wir hier keine exakten Vorhersagen machen, sondern dass wir einen “Raum-der-Möglichkeiten” aufspannen, in denen sich die zukünftige Entwicklung bewegen könnte – mit dem Ziel, dass wir uns näher an die Szenarien heranarbeiten, die weniger Schaden anrichten.

Ziel: Das Jedermann-Modell

Das folgende Modell ist ein sehr vereinfachter Ansatz und ersetzt keinesfalls die hochaufwendigen und komplexen Modelle der Epidemiologen. Meine Zielsetzung ist: Das Modell soll möglichst so einfach sein, dass jeder interessierte Laie sich einlesen kann und den Berechnungsweg nachvollziehen kann. Damit kann sich der Betrachter sein persönliches Bild machen und zu einer eigenen Einschätzung kommen, ob er den Ergebnissen traut, oder nicht.

Dies ist also ein Debattenbeitrag und ich freue mich über jeden, der mich auf Fehler, falsche Annahmen oder Verbesserungsmöglichkeiten hinweist. Ich bitte um Kommentare, Kritik, Verbesserungsvorschläge. Die Google Sheet Datei mit über 50.000 Zellen ist öffentlich einsehbar (Link am Ende des Artikels). 

Soweit möglich vergleiche ich meine Modellberechnungen immer wieder mit anderen Quellen und anderen Prognosen und verbessere das Modell ständig.

Die Grundidee des Modells

Die Grundlage für alle Folge-Berechnungen ist die Berechnung der Fallzahlen für die Zukunft. Mein Modell teilt dafür die Bevölkerung in 5-Jahres-Altersgruppen auf und rechnet für jede Altersgruppe ausgehend von deren Inzidenz von letzter Woche die neue Inzidenz der Folgewoche – berücksichtigt dabei Impfungen, Saisonalität, verschiedene Virus-Varianten, usw.

Insgesamt ist mein Ziel ein tendenziell eher optimistisches Modell zu bauen (was nicht immer gelingt), eine Überdramatisierung bringt uns nichts, wenn doch schon die optimistischen Szenarien unerträglich erscheinen. Wenn die Zahlen eskalieren wird sich auch das Verhalten der Bürger ändern und als Bremse fungieren, was schwer zu berechnen ist.

Angenommene Schlüsselzahlen und Vereinfachungen

Bei den Berechnungen wende ich einige Vereinfachungen und Annahmen an, die zwar eine gewissen Unsicherheit mit sich bringen, im Rahmen eines exponentiellen Wachstums aber von untergeordnetem Einfluss sein dürften.

  • Für die Basis-Szenarien verwende ich R-Wert-Multiplikatoren von 1,7/1,8/1,9 für Delta (Quelle) und 1,35 für Alpha, dieser wird mit R0-Wert von RWild von 3 multipliziert.
  • 50-20% der Infektionen finden in der gleichen Altersgruppe statt, der Rest wird aus den anderen Altersgruppen eingetragen (Herleitung, Quelle).
  • Eine Infektion schützt zu 50%-80% (weniger wenn älter) für mind. 6 Monate vor Reinfektion (Quelle). Eine weitere Aufschlüsselung nach Varianten erfolgt nicht.
  • Die erste Impfung vermeidet 50% (Delta: 30%) der Neuansteckungen, 14 Tage nach der zweiten Impfung wird eine Ansteckung zu 90% (Delta 80%) verhindert (Quelle).
  • Eine Unterscheidung der Impfwirkung nach Impfstoffen findet nicht statt (Astra ist auch nur 16%), denn wir haben keine Daten darüber, wem/wann diese verimpft wurden.
  • Patienten haben bei einer Delta-Infektion eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit für eine Hospitalisierung und einen ITS-Aufenthalt als mit Alpha. Die Case Fatality Rate ist aber nicht höher (Quelle, Quelle).
  • In allen Altersgruppen erfolgen die Ansteckungen i.d.R. mit dem gleichen R-Wert (beschleunigtes Wachstum z.B. in offene/geschlossene Schulen durch Präsenz wird nicht extra berücksichtigt), aber bei Kleinkindern unter 5 Jahren liegt der R-Wert 30% niedriger während er bei Ü80 um 50-100% höher liegt (aus den historischen Daten abgeleitet).
  • Bis August werden alle Impfwilligen Erwachsenen 2x geimpft, ab Juni gibt es Impfungen für die Gruppe 12-16, ab November für die U12.
  • Nicht berücksichtigt ist, dass es bei sehr hoher Belastung der Kliniken und der Rettungssysteme ggf. zu höheren Sterberaten kommt.
  • Die Sommerferien werden nicht gesondert modelliert, weil m.E. unklar ist, ob sich eher weniger Infektionen ergeben (weil keine Schulpräsenz) oder mehr (Eintragungen durch Urlaubsheimkehrer).

Schritt 1: Berechnung der wöchentlichen Fallzahlen

Ich gehe von den wöchentlich verfügbaren RKI-Altersgruppen-Inzidenz-Daten aus und rechne dann jede weitere Woche iterativ weiter. Dafür berechne jede Iteration drei mal: mit R-Werten für den Wild-Typ (der im Mai 2021 fast schon komplett verdrängt wurde), für Alpha/B.1.1.7 und für Delta/B.1.617.2 ab Mai.

Aus einem RWild, dem R-Wert des Wildtyps für den wir Erfahrungswerte aus 2020 haben (welche Maßnahmen/Verhaltensweisen erzeugen welchen RWild-Wert?) berechne ich die R-Werte für Alpha/B.1.1.7 ( RWild + 0,35) und Delta/B.1.617.2 (RWild +x). Schätzwerte für RWild sind z.B.: November 2020= 1,0; März 2021=1,1; Oktober 2020=1,3).

Die Formel für die Berechnung einer Alters-Inzidenz für eine Woche lautet:

t die Kalender-Woche
nAlter(t) Inzidenz je Kalenderwoche für eine Altersgruppe
nAlle(t)Inzidenz je Kalenderwoche für alle Altersgruppen
R7-Tage (t)Der 7-Tage R-Wert in einer Woche (beeinflusst durch Lockerungen/Einschränkungen und Verhalten der Bevölkerung, z.B. im Februar war RWildtyp=0,85, RAlpha=RWildtyp +0,35, RDelta nochmals ca. 20-50% höher)
0,7/0,3Beispielwerte für Queransteckung
qAlter(t)Impfquote in einer Woche für eine Altersgruppe, inklusive Wirkungsrate der 1. (nach 2 Wochen) und 2. Impfung (8 Wochen nach 1. Impfung)
kSaisonSaisonalität zwischen 100% (Winter) und 80% (Sommer), Sinuskurve von April bis September
kMassnahmen Absenkung der Ansteckung durch z.B. Schnelltests
7/4 Der 7/4 Exponent rechnet die R-Wirkung von 4 Tage Zykluszeit auf eine Woche um

Alles was wir nun noch brauchen, um die Inzidenzen zu berechnen sinde R7-Tage (t) für jede Woche des zu modellierenden Zeitraums – bei mir ausgedrückt in RWild. Die Reihe der RWild-Werten müssen wir aus den zu erwartenden Verhaltensänderungen ableiten. Zum Beispiel hatten wir Mitte Januar durch die Lockdown-Maßnahmen einen RWild-Wert von ca. 0,85. Aus diesem berechnet mein Modell dann den RMutation-Wert für Alpha und Delta.

Schritt 2: Modellierung des Impf-Fortschritts

Leider stehen in Deutschland keine Zeitverlaufsdaten der Impfraten der Altersgruppen zur Verfügung. Mein “Impfplan” verwendet einige Annahmen und folgt den historischen Impfdaten (lt. www.zeit.de) sehr gut.

Zum 12.5.2021 veröffentlichte das RKI Altersdaten der Impfraten, die passen sehr gut zu meinem Modelldaten:

Seit der Modellversion in KW 12 lagen meine Modelle schon sehr nah an dem dran, was sich das real eingestellt hat.

Der weitere Verlauf der Impfungen ist im Modell wie folgt hinterlegt:

Die höchste zu erwartende Impfquote pro Altersgruppe habe ich aus der Studie “ECOS survey 6th wave” des Hamburg Center for Health Economics übernommen. Damit ergibt sich folgender Impfplan:

Damit würde sich in den nächsten Wochen der folgende weitere Verlauf ergeben, wenn sich Delta wie erwartet ausbreitet und wir diese Ausbreitung im Oktober/November ausbremsen mit Verschärfungen:

Schritt 3: Berechnung der Todesfälle

Aus den Fallzahlen und deren Altersstruktur können wir jetzt die Todesfälle für jede Woche und jede Altersgruppe berechnen. Die Verstorbenen pro Fall (“Case Fatality Rate”) kann ich mir mit “Todesfälle mit Coronavirus (COVID-19) in Deutschland nach Alter und Geschlecht” aus dem RKI Bericht berechnen.

Entscheidend ist hierbei, dass die Sterberaten natürlich bei den Ü80 ganz besonders hoch liegen, aber auch bei 40-70-Jährigen gibt es ein Sterberisiko, das klar größer null ist:

Damit kann mein Modell – unter Berücksichtigung des Schutzes der Impfungen von bis zu 95% vor schwerem Verlauf – nun die Zahl der Verstorbenen der zweite und dritten Welle vom RKI (schwarze Linie) schon gut “nachzeichnen” (für die erst kürzlich vergangenen Wochen sind die RKI Daten immer unvollständig!), wobei das Modell eher untertreibt:

Das RKI gibt zwei unterschiedliche Zeitreihen für die Todesfälle heraus (1,2), die hier beide dargestellt sind im Vergleich zu meiner Modellrechnung. Eine erste Überprüfung des Modells ist also erfolgreich.

Schritt 4: Berechnungen der stationären Aufnahmen (“Hospitalisierungen”)

Das RKI gibt wöchentlich Daten zur Altersstruktur der Hospitalisierungen heraus. Wenn man die Werte dort von November bis Februar vergleicht mit den Daten des Covid-Pandemic-Mortality-Risk-Estimator des “The Economist”, dann sieht man, dass die gut zusammenpassen, die Economist Daten sind aber detailreicher, also verwende ich die für die weiteren Berechnungen (die starke Abweichung bei den 0-4-Jährigen dürften auf eine erhöhte Dunkelziffer bei den Kleinkindern zurückzuführen sein):

Für Delta wird aus UK berichtet, dass die Anzahl der Hospitalisierungen doppelt so hoch ist wie bei Alpha. Damit ergeben sich im Modell folgende Hospitalisierungs-Zahlen, die auch wieder ganz gut zu den vom RKI veröffentlichten Gesamtzahlen (schwarze Linie) passen:

Schritt 5: Berechnung der Belegung der Intensivstationen

Aus der Studie von Salje et al. habe ich mir die Rate der Patienten herausgesucht, die auf Intensiv mussten und diese mit der o.g. CHR multipliziert, und dann habe ich die Werte anhand der inzwischen verfügbaren offiziellen Altersdaten von den Intensivstationen korrigiert:

Damit können wir – mit Berücksichtigung des Impfschutzes – nun den Verlauf der Belegung der Intensivbetten berechnen (wobei ich als durchschnittliche Belegung 17 Tage verwende, und diese Zahl ab April 2021 langsam steigen lasse, weil die zunehmend jüngeren Patienten länger auf ITS “kämpfen”):

Wieder ein Cross-Check: Mein Modell zeichnet die offiziellen, historischen Zahlen der DIVI (schwarze Linie) aus der zweiten und dritten Welle gut und eher untertreibend nach.

Im Vergleich zu den Daten vom RKI passt auch meine Altersverteilung der belegten ITS Betten:

Schritt 6: Berechnung der Anzahl der LongCovid-Patienten

Die Berechnung der Anzahl der LongCovid Patienten erfolgt nach den Daten der Studie Prevalence of ongoing symptoms following coronavirus (COVID-19) infection in the UK: 1 April 2021, die die folgende Angaben zur Wahrscheinlichkeit abgibt, dass ein Patient nach einem positiven Test noch Symptome hat. Diese Wahrscheinlichkeit liegt zwischen 12% und 21%, ich gehe aber nur maximal 180 Tage zurück, für längere Verläufe von LongCovid habe ich keine Daten gefunden. Die Dunkelziffer der nicht als positiver Fall verzeichneten Infizierten ist auch nicht berücksichtigt.

Damit ergibt sich eine immense Anzahl an LongCovid-Fällen:

Modelllauf vom 4.7.2021

Hier ist abschließend der komplette Modellauf, aus dem die oben gezeigten Daten kommen (=Szenario C aus diesem Artikel):

Zum Vergleich: Modelllauf vom 11.6.2021

Zum Vergleich: Modelllauf vom 16.5.2021

Link zum Google Sheet

Das aktuelle Google Sheet für Deutschland steht hier zum Kopieren zur Verfügung (benötigt ein Google Konto):

Version 11: https://docs.google.com/spreadsheets/d/1EtItDln97qigVyz7CCoJfy1KMdEUKmUcdwbAtfjQ2PY/copy

Feedback bitte an: https://twitter.com/dpaessler

Änderungs-Historie

4.7.2021 – Version 11
  • Umfangreiche Umbauten zur Berücksichtigung der Delta-Variante
  • Viele kleine Anpassungen

Vorversionen: Siehe https://dirkpaessler.blog/2021/06/13/corona-pandemie-prognose-modell-v10/

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG