Wir steuern *wieder* auf eine Überlastung des Gesundheitssystems zu (Modellrechnungen)

Die Inzidenz in Deutschland liegt bei 50 und die Inzidenz verdoppelt sich alle 10 Tage. Bis zur Wahl sind es 40 Tage, also 4 Verdopplungszyklen, und damit wären wir bei Inzidenz 400 bis 800 – weil vor der Wahl wohl keine politische Kraft ernsthaft etwas gegen den Anstieg tut.

Aber was bedeutet denn eine Inzidenz von 400-800 Ende September? Und wie könnte es danach weitergehen? Es ist wieder Zeit für Modellrechnungen!

Wir sehen gerade, dass sogar in Israel die Anzahl der Intensivpatienten steil hoch geht und die USA erreichen bald sogar den Spitzenwert aus 2020. Die Anzahl der Einlieferungen in die Kliniken gehen in vielen Ländern bereits nach oben, bei uns nur bisher am wenigsten, wir hängen noch etwas hinterher.

Keine “Entkopplung” von der Inzidenz

Es gibt tatsächlich keine Entkopplung der Belastung der Krankenhäuser von der Inzidenz. Die Quoten für Hospitalisierungen, ITS-Patienten und Sterbefälle sind zwar durch die Impfungen verändert im Vergleich zur 2/3. Welle, aber nur um den Faktor ca. 2-5. Wenn man nur genügend Neuinfektionen zulässt (und das geht im exponentiellen Wachstum sehr schnell), erreicht man auch wieder jede beliebige Kliniküberlastung.

Die folgende Grafik zeigt die Fall-Quoten für Hospitalisierung und Sterbefälle seit März, man kann gut sehen, dass die Werte bis Mai durch die Impfungen alle gesunken sind. Im Mai und Juni sieht das alles etwas unstetig aus, da hat es m.E. Melde-Probleme und größere Dunkelziffern gegeben. Aber seit dem die Fallzahlen wieder steigen und damit die Zahlenbasis besser wird, finden die Quoten wieder zusammen.

Die gestrichelten Linien sind die Quoten, mit denen mein Modell rechnet und man kann in der Grafik sehen, dass diese ganz gut zu den tatsächlichen Werten passen (genaueres wissen wir erst mit mehr Daten in 2-3 Wochen).

Nach meinem Modell werden aktuell ca. 4% der Fälle hospitalisiert und 0,7% versterben (wobei mein Modell altersgruppen-basiert und die Impfrate beachtend viel detaillierter rechnet als hier vereinfachend gezeigt). Da unsere Impfkampagne arg ins Stottern gekommen ist, werden sich diese Werte in den nächsten 2 Monaten nicht mehr nennenswert verbessern, eher durch Nachlassen der Impfwirkung sogar verschlechtern. Wer heute geimpft wird, hilft erst in 8 Wochen mit beim Bremsen, somit werden weitere kurzfristige Impf-Fortschritte beim jetzt anstehenden Anstieg in die 4. Welle kaum mehr Einfluss nehmen.

Wir werden weiter unten auch sehen, dass es für die Gesamtentwicklung keinen großen Unterschied macht, wenn ich diese Quoten-Werte um z.B. den Faktor 2 falsch einschätzen würde, denn bei einer Verdopplungszeit von 10-14 Tagen wäre dieser Unterschied bereits 2 Wochen früher oder später ausgeglichen.

Da es diese feste Kopplung zwischen Fallzahl und Klinik-Belastung gibt, hat die Inzidenz eben nicht ausgedient als Indikator, auch wenn wir uns höhere Inzidenzen “leisten” können, ohne die Kliniken gleich zu überlasten. Die anderen Folgen eines “Falls”, also Krankenstand, Quarantäne und Long-Covid haben sich aber nicht geändert, und das wird uns m.E. im Herbst noch auf die Füße fallen, wenn wir den Anstieg nicht gebremst bekommen.

4 Szenarien für die nächsten 4 Monate

Im Folgenden habe ich mit 4 Szenarien gerechnet, die ich erstmal ohne Blick auf politische Machbarkeit ausgesucht habe:

  • Szenario 1 “Durchlaufen lassen”: Fortschreibung des aktuellen Wachstums, es gibt mehr und mehr freiwillige Verhaltensänderungen ab Oktober und November, wenn die Berichte aus den Krankenhäusern schlimmer werden. Die Pandemie würde dann von alleine im November auslaufen, weil bis dahin alle Ungeimpften infiziert wurden (also auch alle Kinder).
  • Szenario 2 “Lockdown ab Oktober”: Fortschreibung des aktuellen Wachstums bis Ende September, dann wird ein deutlicher staatlicher Eingriff zur Vermeidung einer Überlastung der Kliniken nötig (Größenordnung “Bundesnotbremse”?). Interessanterweise läge der Termin der Notbremse genau um die Bundestagswahl herum.
  • Szenario 3 “Bremsen sofort”: Schnellstmöglich Einführung einiger relativ einfacher und wenig lebens-unterbrechender Maßnahmen, die aber deutlich bremsen, z.B. generelle Maskenpflicht und 2G in Innenräumen (=nur Geimpfte oder Genesene), klare Maßnahmen an den Schulen (Masken, Klassenteilung, Blasenbildung). Insgesamt müssten mindestens 1-2 Zehntel vom R-Wert weggenommen werden.
  • Szenario 4 “Harte Eingriffe sofort”: Um zu zeigen, dass es auch ohne massive Eskalation gehen würde, habe ich in diesem Szenario nochmals härtere Maßnahmen als in Szenario 3 modelliert, das dürfte auf Einschränkungen ähnlich wie März 2021 rauslaufen – wenn die Bevölkerung da auch ähnlich gut mitmachen würde.

Insgesamt denke ich, dass ein mehr oder weniger erfolgreiches Pandemie-Management an den Schulen, wo noch für Monate die meisten ungeimpften Menschen lange in Innenräumen zusammensitzen, mitentscheidend dafür sein wird, wie schlimm es wird im Herbst. Bei den aktuellen Signalen der Kultusminister darf man das also eher pessimistisch sehen.

Die Inzidenzkurven dazu sehen so aus:

Wie man sieht spannt sich der “Raum der Möglichkeiten” für den Herbst auf von Inzidenz 200 bis zu einer Spitzeninzidenz von fast 2000. Nach dieser Modellrechnung würden ohne sofortige deutliche Gegenmaßnahmen (Szenario 4) in der Größenordnung von mindestens 800-900 bei der Inzidenz herauskommen.

Die gepunkteten Linien zeigen alle meine seit Anfang Juli veröffentlichten Modellrechnungen, man sieht dass wir uns bei den Szenarien 1-3 am oberen, schlimmeren Ende der bisherigen Modellrechnungen bewegen, hoffentlich stoppt dieser Trend bald und meine Modelle sind pessimistisch genug.

Beim Betrachten von Inzidenzen von mehreren Hundert müssen wir auch im Hinterkopf behalten, dass wir in Deutschland – zumindest beim aktuellen Testkonzept – kaum Inzidenzen über 200 messen können. Diesbezüglich dürften die Zahlen meiner Modelle von den RKI-Meldungen kaum erreicht werden, und sind trotzdem da (gigantische Dunkelziffer) und haben trotzdem Folgen.

Was sind die Folgen der hohen Inzidenzen?

Nachdem wir nun 4 Szenarien für den Verlauf der Infektionen haben, können wir mit meinem Modell die Folgen dieser 4 Verläufe anschauen.

Beim Betrachten der folgenden Daten müssen wir im Hinterkopf behalten, dass es neben den gezeigten Auswirkungen (Patientenzahlen und Tote) auch noch andere erhebliche Nebenwirkungen von sehr hohen Infektionszahlen gibt, die oft unterschätzt werden:

  • extreme Belastung des ambulanten Gesundheitssystems (Hausärzte behandeln 90% der Corona Patienten)
  • massive Ausfälle von Mitarbeitern in der Wirtschaft durch Erkrankung und Quarantäne
  • massiver Ausfall von Schulunterricht/Uni-Betrieb durch Erkrankungen und Quarantäne
  • Longcovid

Bei Inzidenz 1000 ist eine Person von 100 erkrankt und hat 2-10 (?) Personen in Quarantäne mitgenommen, d.h. ständig sind mind. 10% der Bevölkerung weg, in den jungen Jahrgängen eher mehr. Die Engländer nennen das “Pingdemic”.

ITS-Belegung im Vergleich

Als ersten Eindruck schauen wir auf die ITS-Bettenbelegung mit COVID-Patienten, die sich aus den oben gezeigten Inzidenzen ergeben würde. Wir sehen, dass wir ohne Bremsen in irgendeiner Form zur Bundestagswahl eine ITS-Belegung hätten wir in der Spitze der letzten Welle im April. Die alte Regierung würde damit der neuen Regierung ein hässliches Osterei für den Start ins Nest legen.

Übrigens würden geimpfte Personen im Herbst etwa ein Drittel der ITS-Patienten ausmachen in meiner Modellrechnung. Etwa 50% der Hospitalisierungen im Herbst sind laut meiner Modellrechnung Geimpfte (also ähnlich wie wir das in Israel sehen).

Schauen wir noch auf die Details der Szenarien:

Szenario 1 “Durchlaufen lassen”

In der Spitze hätten wir 1,6 Mio Infektionen in einer Woche und die Krankenhäuser würden von einer Patientenwelle weit jenseits der 2./3. Welle überrollt werden. Trotz Impfungen gäbe es immer noch ca. 60.000 Tote bis Jahresende. Anmerkung: Für dieses Szenario hoffe ich sehr darauf, dass mein einfaches Modell diesen Verlauf zu schlimm rechnet.

Szenario 2 “Lockdown ab Oktober”

Dies ist m.E. die wahrscheinlichste Variante, die zu einer Welle in den Kliniken führen würde, die etwa doppelt so hoch ist wie die 2./3. Welle. Es käme zu ca. 30.000 Todesfällen und 1 Million Longcovid-Fällen.

Szenario 3 “Bremsen sofort”

Auch in diesem Szenario kommt es zu einer starken Eskalation im Gesundheitssystem. Die Folgen von Szenario 3 sind sehr ähnlich zu Szenario 2, nur dass sie später eintreffen würden. Insgesamt hätte man noch einige Wochen mehr Spielraum für Maßnahmen (und Regierungswechsel) und man könnte dann mit beherztem Durchgreifen im Oktober wohl noch das Schlimmste abwenden.

Szenario 4 “Harte Eingriffe sofort”

Hier kann man schön sehen, dass die Impfungen den Verlauf und die Folgen der Pandemie verändert hat: Die Fallzahlen steigen auf fast das Doppelte der 3. Welle, die ITS-Bettenzahl bleibt aber klar unter der 3. Welle. Und die Anzahl der Verstorbenen liegt sogar bei knapp der Hälfte, ca. 10.000 Tote wären bis Jahresende zu beklagen und 0,8 Millionen Longcovid-Fälle. Leider scheinen wir uns also Gesellschaft nicht für dieses Szenario mit den kleinsten und doch üblen Schäden entscheiden zu können.

Fazit

Auch nach längerem Herumspielen mit weiteren Szenarien kann ich mit meinen Modellrechnungen keine Variante außer dem oben gezeigten Szenario 4 (=sofortige deutliche Einschränkungen) finden, die ohne klare Verschärfung von Maßnahmen die Überlastung des Gesundheitssystems vermeidet, und je später diese ergriffen werden, umso heftiger muss das ausfallen. Und dabei sind die oben angesprochenen anderen Schäden und Folgen von hohen Inzidenzen noch gar nicht betrachtet, weil sie zahlenmäßig schwer zu greifen sind.

Unser Impffortschritt ist mit “60% und ein bisschen” einfach noch sehr weit davon entfernt, dass wir die Pandemie ohne nicht-pharmazeutische Maßnahmen beherrschen können. Wir müssen die Spitze der 4. Welle ausbremsen und parallel dazu impfen was das Zeug hält.

Zweite Meinungen?

Mit diesem düsteren Ausblick auf den Herbst bin ich leider nicht alleine. Es gibt auch andere Modellierungen/Projektionen, die zu ähnlichen Ergebnissen kommen wie ich, z.B. Christian Karagiannidis, medizinischer Leiter der DIVI, Martin Hechler, @aloa5, @aurelwuensch, @f2135, @Suprion_verlag, @Tuedelkopp.

Auf jeden Fall kann im Oktober oder November keiner sagen, dass das ja keiner ahnen konnte.

Ein paar Anmerkungen zu meinem Modell

Die oben gezeigten Berechnungen sind mit Version 15 meines Modells berechnet. Im Moment steht nur für V11 von Anfang Juli eine ausführliche Dokumentation zur Verfügung, die Aktualisierung werde ich nachliefern. Hier habe ich in einem Rückblick auf frühere Modellrechnungen gezeigt, dass für 6-8 Wochen in die Zukunft die Werte einen guten Eindruck von dem vermitteln, was auf uns zukommt. Dass das Modell auch im August noch Ergebnisse liefert, die gut zur Realität passen, zeigen die folgenden Grafiken (am Beispiel des Szenario 2).

Die vom RKI gemeldeten Hospitalisierungen in schwarz kann das Modell sehr gut nachzeichnen.

Auch die von DIVI gelieferte ITS-Bettenbelegung (schwarz) zeichnet das Modell sehr gut nach:

Und auch die Anzahl der Verstorbenen (Zahlen vom RKI, schwarz) sind im Modell passend:

Die folgende Grafik zeigt, wie gut das Modell aus den Daten der KW 27 die Altersverteilung der Inzidenzen für die Wochen 28-32, also über 5 Wochen in die Zukunft, berechnen kann (wenn man die richtigen R-Werte annimmt).

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG