Was eine große Booster-Impfaktion bringen könnte (Modellrechnung)

Um als Gesellschaft aus einer Pandemie herauszukommen haben wir drei mögliche Lösungswege: Kontaktbeschränkungen (will keiner), Medikamente (haben wir nicht) und Impfungen. Helfen uns dann vielleicht diese “Booster” durch den Winter?

Wer hat eine Vorstellung davon, was eine breite Booster-Impfkampagne bringen würde? Ich hatte keine Vorstellung davon… Also habe ich in meinem Modell einige Rechnungen gemacht, um ein Verständnis dafür zu entwickeln, welche Wirkung Booster haben könnten. Können wir damit die Winterwelle noch stoppen, oder hilft das nur noch fürs nächste Jahr?

ACHTUNG: Was folgt sind spekulative und experimentelle Modellrechnungen, die gar nicht das Ziel haben exakte Infektionszahlen für den Tag X vorher zu sagen, sondern es geht darum zu verstehen, wie verschiedene Änderungen der Annahmen den Verlauf der Pandemie im Modell beeinflussen – um daraus ggf. Schlüsse zu ziehen, was wir jetzt anders machen könnten, damit die Zukunft mit höherer Wahrscheinlichkeit eine bessere wird. Das ist natürlich ein vereinfachtes/abstrahiertes Bild der Realität.

Wer mit solchen Gedankenkonstrukten nicht gut klar kommt (Hallo Modellagnostiker!) blättert bitte irgendwo anders hin und liest hier nicht weiter.

Wieviel Einfluss haben Booster-Impfungen auf den weiteren Verlauf?

Unser Problem ist, dass nach der 2. Impfung der Schutz gegen Ansteckung um ca. einen Prozentpunkt pro Woche absinkt (siehe Quellen-Angaben unten). Zwei Wochen nach der 2. Impfung sind es ca. 88% Schutzwirkung gegen Ansteckung, 20 Wochen später sind es nur noch 70%.

Auch wenn der Schutz gegen schwere Verläufe und Tod dagegen fast unverändert bestehen bleibt, also der Einzelne geschützt ist (wichtig!), haben wir gesamtgesellschaftlich ein Problem: Weil zu viele Menschen noch nicht geimpft sind, können sich in der Gesellschaft neue Wellen aufbauen, wenn zu viele Geimpfte trotzdem noch angesteckt werden können.

Diese Situation kann man verbessern (und damit die Impfmüdigkeit der Ungeimpften ausgleichen), indem man eine dritte Impfung gibt, in der Regel 6 Monate nach der 2. Impfung. Dies hebt quasi den Verlust an Schutz gegen Ansteckung auf – so hofft man. Und man kann sich damit mit der gesamten Gesellschaft wieder der Herden-Immunität nähern. In Israel und Dänemark wird diese Strategie bereits verfolgt, 3. Impfung für alle ab 18 Jahren.

Also habe ich meinem Modell das Boostern beigebracht. Mit einer “Booster-Rate von 50%” ist damit gemeint, dass wir so viele Drittimpfungen verabreicht haben, dass impfkohortenweise 50% des Wirkungsverlusts gegen Ansteckung bis Woche 38 (=30+2 Wochen nach 2. Impfung, Pro Woche 1%-Punkt Wirkungsverlust) aufgehoben wird. Wieviele % der 6-Monate-alten Zweit-Impfungen wir dafür boostern müssen ist m.E. noch nicht bekannt, aber die Annahme, dass das mindestens 50% der Geimpften sein müssen dürfte hinreichend passen. Wobei das Modell die gleiche Reihenfolge der Altersgruppen wie Anfang das Jahres verwendet für die Drittimpfungen.

Den Unterschied in der Wirkung sieht man wenn man die mittlere Grafik mit der rechten Grafik vergleicht: Während wir ohne Booster über alle Menschen gerechnet nur knapp über 50% Vermeidung von potentiellen Ansteckungen kommen erreichen wir mit 50%-Booster-Wirkung deutlich über 60% Vermeidung.

Das Modell rechnet optimistisch mit Erreichen einer Erst-Impfrate von 80% bis Jahresende

Als Basis-Szenario kommt meine aktuelle “Best-Estimate” Variante zum Einsatz, in der der nächste Winter durchaus Ähnlichkeiten zum letzten Winter hat, nur auf höherem Niveau:

Dann habe ich ausgehend von diesem Basis-Modellszenario mit 0% Booster-Rate mit 10/20/30/40/50/60% Booster-Impfung in Woche 34 nach 1. Impfung gerechnet (26+6+2). Dann kommen diese Inzidenz-Kurven dabei heraus, wobei der R-Wert, der unsere Verhaltensänderungen/Maßnahmen ausdrückt, so programmiert ist, dass bei mehr als 4.000 ITS Patienten eine Absenkung des R-Wertes um fast 50% ausgeführt wird (nennt es “Lockdown” oder anders, egal wie, die Kontakte müssen massiv sinken) und bei Unterschreiten von 4.000 ITS-Patienten langsam wieder gelockert wird, immer mit dem Ziel im Frühjahr bei “ohne Einschränkungen” anzukommen.

Man sieht

  1. dass das Boostern bei der aktuellen 4. Welle keinen großen Unterschied mehr macht (dafür ist es zu spät),
  2. dass jede 10% mehr Booster-Rate die 5. Welle (“Exit-Welle”) im Frühjahr nach unten schiebt,
  3. dass 10% Booster-Rate keine große Wirkung hat,
  4. dass schon ab 20% Booster-Rate kaum mehr eine Welle stattfinden würde.

Mit nur 20% Booster-Rate sind wir hier aber auch an einer nur sehr kleinen Änderung am Gesamtsystem, was das Ergebnis zumindest zu einem Teil auch in Frage stellen könnte. Aber in beide Richtungen. Wir bewegen uns in Deutschland ziemlich genau an der Kante zwischen Wachstum und Absinken, was Prognosen sehr schwierig macht – und aber auch gleichzeitig bedeutet, dass kleine Änderungen an unserem Verhalten uns vielleicht schon auf die sichere Seite bringen könnten.

Mit 20% Booster-Rate ergibt sich dann dieser Modellverlauf: Man beachten den viel kleineren Anteil an geimpften Infizierten (grüne Linie rechts oben) als im Basis-Szenario.

Was müsste passieren um 20% Booster-Rate zu erreichen?

Bis Ende März müßten wir etwa 10 Millionen Drittimpfungen machen (grüne Linie), damit wir die 20% Rate halten können. Beim aktuellen Trend (orange Linie) schaffen wir aber nur ca. 7 Millionen bis März.

Ab November brauchen wir also mindestens eine Booster-Impfkampagne, die innerhalb von 4 Monaten fast 10 Millionen Menschen impft um 20% Booster-Rate zu erreichen. Da wir die vulnerabelste/älteste Gruppe in dieser Modellrechnung zuerst boostern ist auch die Wirkung der ersten 20% am höchsten.

Weil aber die Booster-Impfungen nicht nur bei den Älteren und den Vorerkrankten sonden für alle jeweils individuell eine höhere Schutzwirkung erreichen, sollten wir dabei unbedingt mehr als die 20% dritt-impfen, die in dieser Modellrechnung für den gesellschaftlichen Effekt nötig wären. Was uns dann schnell näher an die oben gezeigten 50% ranbringt – das wären bis März dann schon wieder 20 Mio Impfungen.

Gerade heute wurde eine Studie veröffentlicht, die hochoffiziell zu dem Schluss kommt, dass Booster-Impfungen substantiell helfen Ansteckungen zu vermeiden. Aber auch dies ermöglicht nicht die Rückkehr zu prä-pandemischem Veralten, außer bei extrem hoher Impfrate.

Wenn die Impfdosen knapp wären, wäre es natürlich besser noch-Ungeimpfte zu impfen als Geimpfte zu Boostern (Quelle). Aber zur Zeit scheint in Deutschland kein Mangel an Impfstoff zu herrschen. Aber auch mit mehr Erstimpfungen könnten wir uns nicht mehr aus der 4. Welle rausimpfen, wie ich gestern gezeigt habe.

Also

Weder eine Erst-Impfkampagne noch eine Booster-Kampagne stoppen die 4. Welle. Wie die Regierung angesichts der aktuellen Wachstumsraten bis Weihnachten ohne “unverhältnismäßige Lockdowns” (oder wie man auch immer umfangreiche Verhaltensänderungen auf breiter Front bezeichnet) durchkommen will — das bleibt mir ein Rätsel.

Quelle: spiegel.de

Hoffen auf ein R-Senkungs-Wunder?

Quellen

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG