Wir fahren immer weiter hinein in einen “Zahlen-Nebel”, haben zunehmend schlechteren Einblick in den Verlauf

Aus Modellierer-Sicht befinden wir uns schon seit 2-3 Wochen im “Nebel”, denn die realen Daten passen nicht mehr zu den Modell-Daten.

Leider ist das kein gutes Zeichen: z.B. scheinen bereits ~30% mehr Covid-Patienten zu sterben als in Zeiten optimaler Versorgung

Ein Thread
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Die 3 Grafiken für Hospitalisierungen, ITS-Betten und Verstorbene zeigen die offiziellen Zahlen von RKI und DIVI (schwarz) im Vergleich zu den Zahlen, die mein Modell aus den historischen Fallzahlen und der Prognose der Fallzahlen für die nächsten 4 Wochen errechnet (blau).
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Klar zu sehen ist, dass das Modell sehr genau die historischen Patienten/Todeszahlen berechnen kann, außer bei hoher Belastung, also in Welle 2 und 3. Und eben jetzt. Die Abweichungen werden mehr und mehr. Was ist da los? Fehler im Modell?
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Grafik 1 zeigt den Verlauf der Fallzahlen mit meiner Modellrechnung für Szenario F (kein staatlicher Eingriff, Bevölkerung bremst langsam selbst). Wir wissen: ab Inzidenz 500-800 ist Meldesystem überlastet. Deswegen werden RKI-Meldungen bald nicht mehr zu Modellzahlen passen.
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Ob dieses Abweichen dann "real" ist (also die Pandemie-Ausbreitung verlangsamt sich stärker als erwartet) können wir aus diesen Zahlen nicht mehr ablesen. Wir fahren in dichter werdendem Nebel.
Es ist einfach gar keine gute Idee, die Fallzahlen so weit steigen zu lassen!
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Grafik 2 zeigt, dass die Anzahl der wöchentlichen Hospitalisierungen bereits klar unterhalb den aus den Fallzahlen zu erwartenden Werten liegt. Der ins Klinikum aufgenommene Teil der Infektionen sinkt: Triage seit Anfang November?
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Wie sich diese Zahl weiterentwickelt, dafür haben wir keine Erfahrungswerte. Auch hier sind wir blind.

Aber: Die Politik hat exakt DIESE Metrik ausgesucht, um über die weiteren Maßnahmen zu entscheiden. Das ist nicht so richtig klug, ganz abgesehen von der Meldeverzögerung.
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Die von der DIVI gemeldete ITS-Bettenbelegung weicht sogar noch deutlicher von den zu erwartenden Werten ab. Weniger Patienten kommen dazu als erwartet (s.o.) und wahrscheinlich bleiben sie weniger lang. Weil die ITS (über-)lastet sind.
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Auch hier haben wir keine Erfahrungswerte, mit denen wir für die nächsten Wochen belastbare reale Zahlen vorhersagen könnten, mit denen die Kliniken planen könnten. Wir wissen nur, dass die Zahlen ansteigen. Modell ist Abschätzung nach oben.
Auch hier sind wir blind.
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Die vierte Grafik zeigt, dass das Modell die Zahl der Verstorbenen deutlich UNTERschätzt.
Im Moment sterben bereits ca. 30% mehr Corona-Patienten, als dies bei optimaler Versorgung zu erwarten gewesen wäre, ähnliche Entwicklung wie vor einem Jahr. Nur schneller/steiler!
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Wichtig bei dieser Zahl ist zu wissen, dass die Fallzahlen, die diese Verstorbenenzahlen erzeugen, die realen (nicht modellierten!) Fallzahlen der vergangenen 3 Wochen sind, die Berechnungs-Basis sind also keine angenommenen, sondern reale Infektionen.
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Wie der weitere Verlauf der Verstorbenen-Kurve ist (bleibt es bei +30%, oder wird das durch steigende Überlastung mehr, wenn ja wie viel?) können wir kaum vorhersagen. Wir wissen nur, dass die Zahlen ansteigen werden, die Modellzahlen sind Abschätzung "nach unten".
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Die hier gezeigten extremen Belastungen der Kliniken, OPs, Notaufnahmen, Rettungsdienste betreffen auch alle anderen Patienten (="ohne Covid") und entfalten dort ähnliche Wirkungen. Man stirbt mit der gleichen schweren Krankheit jetzt wahrscheinlicher als sonst.
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Es bleibt noch anzumerken, dass wir in Welle 3 genau die gleichen Effekte gesehen haben: Patienten/ITS-Zahlen sinken unerwartet und Anzahl der Verstorbenen steigt unerwartet. Das ist also jetzt in der 4. Welle keine Ausnahme.

Sh**t. Also: Wann bremsen wir? Und zwar richtig?
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PS: Wenn wir die Inzidenzen unterhalb von ca. 150-250 gehalten hätten, würden m.E. alle diese Effekte und steigenden Unsicherheiten so nicht stattfinden, dann hätten wir die Pandemie weiter unter Kontrolle. Aber jetzt werden wir zunehmend blinder.

Originally tweeted by Dirk Paessler (@dpaessler) on November 20, 2021.

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG