Pandemie: Was ist unser Plan für den Herbst?

Im Moment wirkt es so, als wäre der Plan der Bundes- und Landes-Regierungen einfach nur die schrittweise Abschaffung aller Regeln bis auf null. Da ich aber davon ausgehe, dass dort auch Menschen langfristiger planen, können wir aus diesem Verhalten vielleicht wieder – wie im Januar – herauslesen, warum das jetzt so läuft, ob da evtl. ein Plan oder eine Strategie dahinter steckt.

Ende Januar hatte ich anhand der Aktivitäten der Regierung und den zu erwartenden Verläufen schonmal versucht zu verstehen, was der “Plan” der Regierung ist. Damals wurden uns der Plan und die zugrundeliegenden Modelle ja auch nicht mitgeteilt.

Wir haben nun die Situation, dass wir es mit den aufkommenden Omikron-Varianten BA.4, BA.5, BA.2.12.1 und ggf. weiteren Varianten mit Viren zu tun haben, die noch ansteckender sind, u.a. weil sie den bestehenden Immunschutz umgehen, egal ob man diesen durch Impfung, Infektion oder eine Kombination daraus erworben hat – man kann sich mehrfach infizieren. Außerdem sinkt dieser erworbene Schutz mit der Zeit beständig ab und wir haben keine Impfstoffe, die eine Ausbreitung dieser Varianten verhindern können (und wenn sie kommen sollten, kommen sie für diese Welle zu spät). Wir werden also unweigerlich in die nächste Runde gehen.  

Wie man aktuell in Portugal (einem der Länder mit der höchsten Impfquote weltweit) sehen kann, entsteht dort bereits (im Sommer!) mit BA.5 eine ordentlich neue Welle inklusive nennenswerter Erhöhung der wöchentlichen Todeszahlen. Diese Welle bricht u.a. durch die maximal günstige Saisonalität gerade jetzt und damit früher/flacher als bei uns um Herbst

Auch in Deutschland werden diese Varianten im Spätsommer/Herbst bei gleichbleibendem Verhalten durch höhere Varianten-R-Werte, sinkende Immunität und wieder steigender saisonale Wirkung eine neue Welle verursachen. Und diese wird nur enden, wenn nicht mehr genügend Ansteckbare zu finden sind oder/und wir unser Verhalten freiwillig oder unfreiwillig ändern, sodass ein Infizierter weniger weitere Personen anstecken kann. Den zeitlich genauen Verlauf und die Höhe der Welle ist noch nicht zu berechnen, aber erste Modellrechnungen lassen ahnen, dass wir im September (plus/minus 1 Monat) mit Inzidenzen über 1.000 rechnen müssen (selbst mit der riesigen Dunkelziffer, die wir inzwischen haben). Wenn wir das Test/Zählsystem noch weiter sabotieren, werden wir diese Welle als Fälle kaum korrekt sehen können. Dann sehen wir die Welle erst in den Kliniken.

Die Welle wird ohne handfeste Maßnahmen oder gar Lockdowns so lange exponentiell hochlaufen, bis ein erheblicher Anteil der Bevölkerung angesteckt ist, und sich in der Gesamtsumme der individuellen Teil-Immunitäten genügend Gesamt-Immunität ansammelt, sodass die Welle bremst und zusammenbricht. Wir sprechen von vielen Millionen Infektionen, die dafür nötig sind, und jede Woche werden sich mehr Menschen anstecken.

Die neue Variante Omikron hat sich Anfang des Jahres auch deswegen etwas unproblematischer angefühlt, weil während der Omikron-Welle die Saisonalität ständig nur gesunken ist (von Weihnachten bis Ende Juni). Jetzt bekommen wir NOCH ansteckendere Varianten, die sich zu einem Zeitpunkt durchsetzen, ab dem die Saisonalität nicht mehr als Bremse sondern als immer stärker wirkende Beschleunigung “drückt”, bis Weihnachten. Diesen Effekt darf man nicht unterschätzen.

Entscheidend für uns als Gesellschaft sind dann natürlich die Folgen der Infektionen. Eine Infektion kann grob aufgeteilt folgende Verläufe haben:

  • (fast) symptomlos 
  • leichte Symptome, einige Tage im Bett
  • mittlerer Verlauf, 2-4 Wochen krank
  • schwerer Verlauf, wochenlang krank, ggf. Krankenhaus, ITS, Tod

Wie die Verteilung dieser Outcomes auf die Fälle für die sich neu ausbreitenden Varianten sind, kann noch keiner sagen (erste Daten sprechen nicht für eine Abschwächung, eher für eine Verstärkung). Aber sicher ist: jeder Infizierter kann andere anstecken, es wird viele Arbeits-/Schulausfälle geben und nach den neuesten Zahlen der CDC leiden danach ca. 20% der Erwachsenen noch Monate später an Long Covid, auch nach leichten, unauffälligen Erstverläufen. Ob das Longcovid-Risiko bei Reinfektionen sinkt oder steigt ist noch nicht raus. Übrigens: Impfungen senken das LongCovid-Risiko nur um 15% im Vergleich zu Ungeimpften.

Die Datenlage ist also sehr komplex zur Zeit, aber Grund genug, sich darauf vorzubereiten, im Herbst Gegenmaßnahmen einführen zu können, um Lüftungen/Filter zu installieren, um Remote-Phasen in Büros und Schulen zumindest vorzubereiten. Dazu sind 3 Monate Zeit. Wir brauchen umgehend eine Neufassung des IfSG, das aktuelle Gesetz könnte ggf. nicht genügend Maßnahmen-Optionen bieten und es läuft am 23.9. aus: das könnte am Peak der Welle sein.

Selbst wenn wir total Glück haben und die Erkrankungs-/Hospitalisierungs- und Sterberaten der nächsten Welle liegen viel niedriger als im März/April, bleiben uns die Arbeitsausfälle und Longcovid-Fälle erhalten, und die skalieren direkt linear mit den Infektionszahlen. Und wenn sich die ungebremst exponentiell entwickeln, könnten sich diese Zahlen in bisher ungeahnte Höhen aufschwingen (eben bis wir genügend Massen-Immunität durch Infektionen angesammelt haben).

Entscheidend ist also, was wir bis zu dem Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Welle nach Millionen von Infektionen machen und ob wir auch ein bisschen “flatten the curve” machen, indem wir dann doch noch Verhaltensänderungen machen bei sehr hohen Infektionszahlen, egal ob freiwillig oder staatlich vorgegeben. Aufgrund des exponentiellen Verlaufs kann ich mir beim Blick auf die Modelle kaum vorstellen, dass wir da ganz ohne einige Bremsmaßnahmen durchkommen im Herbst. Aber, Hey, das hatte ich Ende Dezember auch gedacht, und dann wurde entschieden nichts gegen Omikron zu tun und man hat damit 20 Mio Fälle (d.h. >40 Mio Infektionen), 180.000 Hospitalisierungen, 24.000 Tote, riesige Arbeitsausfälle und Millionen Long-Covid-Fälle in Kauf genommen von Januar bis Juni 2022.

Wenn wir jetzt im Sommer besonders sorglos sind und bei niedrigen Fallzahlen viele Infektionen zulassen und damit schon mal unseren Immunitäts-Haufen “ansparen”, dann sind im Herbst beim steilen Anstieg der Kurve (weil Saisonalität “drückt”) nur noch etwas weniger Infektionen nötig bis zum Peak und wir kommen mit weniger starken Bremsmaßnahmen aus. Wenn wir ab jetzt sehr restriktiv wären (oder immens mehr Impfen würden), und viele Infektionen im Sommer vermeiden, müssen wir die Kurve im Herbst weiter hochlaufen lassen und/oder härter bremsen, damit sie bricht.

Und das ist dann wohl auch die Entscheidung, die die Politik jetzt getroffen hat. Wenn das eine bewusste Entscheidung ist, dann hat man verstanden, dass wir nur mit ständigen Einschränkungen ODER mit Millionen von Infektionen durch den Herbst kommen und dass man später die wenigsten Einschränkungen dann aussprechen muss, wenn man möglichst früh schon viele Infektionen zuläßt, also jetzt im Sommer. Was man aber im Modell sehen kann: Wenn man schon ab Sommer beständig etwas bremsen würde, würden sich in der Summe substantiell weniger Gesamt-Fälle ergeben (und damit auch weniger Ausfall, Krankheitslast und LongCovid), das könnten bis Jahresende 30% weniger Erkrankte sein.

Die Strategie zeigt sich m.E. ganz klar: Minimierung der Maßnahmen, egal welche Folgen das für den Einzelnen bedeutet. Eingegriffen wird nur im Notfall (und damit sicher zu spät, weil Exponentialität). Die sich ggf. ergebenden Millionen LongCovid-Fälle werden anscheinend gar nicht nicht eingepreist und auch nicht die langfristigen Ausfälle und Reha-Kosten für die Gesellschaft. Die könnte man nur mit frühen und durchgehenden Bremsmaßnahmen runterfahren (aber auch nicht auf null). Bei den Patienten- und Todeszahlen geht man ins Risiko, nach dem Prinzip Hoffnung: Bestimmt kommen weniger Menschen ins Krankenhaus, ganz bestimmt. Wissenschaftliche Grundlage: Fehlanzeige. Nicht einmal ein Plan B ist sichtbar. Vernünftiges Risiko-Management sieht anders aus.

Was ich in diesem Zusammenhang für eine Demokratie unwürdig finde, ist dass dieser Diskurs nicht offen geführt wurde und man uns Bürgern diese Entscheidung und die Szenarios bisher so nicht mitgeteilt/offengelegt hat. Auch bekommen wir die Modelle und Zahlenwerke, mit denen man dieses Vorgehen geplant hat, nicht zu sehen. Ganz so wie im Dezember.

Ganz wichtig: Es hier geht gar nicht darum, einen grossen Lockdown herbeizuschreiben. Im Gegenteil! Eine Welle ist sowieso unvermeidlich, aber wir sind ihr auch nicht völlig ausgeliefert. Was viele Menschen mathematisch nicht verstehen: Wenn man einfache, billige, kluge Brems-Maßnahmen wie Masken, Tests, Lüftung/Luftfilter, Isolation usw. frühzeitig einführt um den R-Wert ein bisschen zu senken und dies dann lange durchhält, dann führt das bei einer Exponentialfunktion dazu, dass die Summe der Gesamtfälle (“Die Fläche/Das Integral unter der Kurve”) deutlich niedriger ausfällt, d.h. am Ende haben viel weniger Menschen Corona gehabt und auch die Folgen wie Personalausfall und LongCovid fallen niedriger aus. Damit wird dann ein Lockdown ggf. nicht vollständig vermieden, aber die Gesamtbelastung der Menschen liegt deutlich niedriger.

Aber wir machen das Gegenteil: wir wissen bereits heute aus den Sequenzierungszahlen, dass sich die nächste Welle bereits aufbaut und schaffen gleichzeitig Maßnahmen ab, anstatt schon langsam gegen die Welle zu arbeiten. 

Zwei Jahre Pandemie und wir haben nichts gelernt.

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG