Es folgt mein Vorschlag für eine stark vereinfachte Berechnung zur Abschätzung der Krankheitslast von Corona-Wellen, mit der Bitte um Feedback und Verbesserungsvorschläge. Also bitte als “RFC” (Request for Comments) verstehen und ==> hier <== auf Twitter kommentieren.
Aktuell verdoppeln sich die Inzidenzen alle 2 Wochen, Bremsmaßnahmen sind nirgends in Sicht. Wohin führt uns das noch? Wo bleibt die Märchenprinz-Notbremse? Das fragen sich Pandemie-Modellierer beim Blick in den Juli/August.
- Bei Martin liegt die Spitze Anfang Juli bei Inzidenz 800.
- RV zeigt 300.000 Fälle/Tag am 1.7., d.h. Inzidenz 2.500
- Roland ist am 7.7. bei knapp Inzidenz 1.000
- covid19forecasthub zeigt beständiges Wachstum
- Mein Modell vom 8.6. (pessimistisches Szenario) zeigt am 4.7. eine Inzidenz von ca. 1.300
- Bei allen wachsen die Fallzahlen im Juli ungebremst weiter (außer bei Martin) und nur eine “Durchseuchung” scheint noch geeignet zu sein, die Welle zu brechen, wenn keine Märchenprinz-Notbremse kommt.
Um derartiges Wachstum aufzuhalten bräuchte es schon einige robuste Verhaltensänderungen, nur scheint das kaum jemanden zu interessieren. Die Intensivstationen und Sterbezahlen sind (Impfung sei dank!) nicht mehr der primäre Grund einzuschreiten, aber es gibt darüber hinaus noch weitere gute Gründe, die Fallzahlen nicht ungebremst wachsen zu lassen. Denn es gibt immer noch eine erhebliche Krankheitslast und Personalausfälle.
In diesem Artikel möchte ich versuchen die Krankheitslast abzuschätzen, die durch die BA.5 Welle im Sommer erzeugt wird. Dazu schaue ich auf den sich ergebenden Krankenstand, die Hospitalisierungen und die Anzahl der Longcovid-Patienten.
Was jetzt folgt ist ein sehr vereinfachtes Modell, bei dem ich diverse Annahmen machen muss, die sich im Laufe der Zeit als falsch herausstellen könnten. Um diese Anzahl der möglicherweise falschen Annahmen möglichst klein zu halten ist mein Ziel ein extrem vereinfachtes Modell zu entwickeln. Die Alternative dazu wäre entweder gar keine Ahnung zu haben, was da auf uns zukommt, oder ein sehr komplexes Modell aufzusetzen, was mit noch mehr Fragezeichen behaftet ist.
Leider haben sich Verwaltung und Politik in unserem Land nicht dazu durchringen können, mit modernen Verfahren (z.B. Abwasser-Monitoring, Panel-basiertes Monitoring, zentrale Patientenakten) eine gute Ausgangsdatenlage für derartige Abschätzungen bereitzustellen. Der Pandemie ist das aber egal, die BA.5-Welle wird uns auch ohne gutes Monitoring einholen, also müssen wir mit den schlechten Daten arbeiten.
Schritt #1: Abschätzung der wöchentlichen Infektionszahlen (also nicht “Fallzahlen”)
Zuerst brauchen wir als eine Dunkelziffer-bereinigte Anzahl der Infektionen pro Woche. Dafür habe ich die wöchentlichen Fallzahlen des RKI mit dem Faktor 1,8 multipliziert. Ab März 2022 habe ich zusätzlich die hier gezeigte Fallzahlen-Korrektur angewendet, die im Juni 2022 zu einem Korrekturfaktor von fast 4 führt.
Für die zukünftigen Fallzahlen ab 13.6.2022 verwende ich mein “Pessimistisches Szenario” aus meiner Modellrechnung vom 8.6.2022. Die aktuelle Entwicklung sieht so aus, als würden wir uns auf diesem Szenario-Pfad befinden.
Für die Anzahl der wöchentlichen Infektionen ergibt sich dann folgendes Bild bis Ende Juli:

Bis August steuern wir also – zumindest in diesem Modell – auf 75 Mio Infektionen seit Beginn der Pandemie zu. Dann hat es statistisch fast jeder einmal gehabt (oder eben einige mehrfach, wahrscheinlich gar nicht mal so wenige).
Fazit: Diese Welle einfach weiterlaufen lassen erscheint mir keine gute Idee.
Wichtig: Wenn sich diese Fallzahlen-Kurve als falsch herausstellen sollte, dann stimmen natürlich auch alle folgenden Kurven nicht, weil sie auf der Fallzahlen-Kurve beruhen. (“If you are wrong with an exponential function you are exponentially wrong.”)
Schritt #2: Abschätzung des Personalausfalls
Meine These: Wenn wir die Fallzahlen wieder hochlaufen lassen wird der Krankenstand diesem Anstieg ziemlich linear folgen, so wie in der Vergangenheit. Beim Verband der Betriebskrankenkassen @BKKDV habe ich mir die monatlichen Krankenstands-Daten der beschäftigen Versicherten der Mitglieder des BKK Dachverbands seit Januar 2020 geholt und diese anhand der Fallzahlen modelliert:

Da ergibt sich, dass bis Ende Juli einen wesentlich höheren Krankenstand hätten als im April (erinnert Ihr Euch?), mit immer noch weiter steigendem Trend. Das dürfte schwierig werden sowohl für die kritische Infrastruktur als auch für alles andere.
Hier der Vergleich meines Modells für den Krankenstand mit dem Anteil der ZNAs in der DGINA Notaufnahme Ampel, die einen Personalausfall wegen COVID meldeten:

Beide Kurven passen gut zueinander, nur im Frühjahr 2021 hatten die frühen Impfungen des ZNA Personals verhindert, dass es zu Engpässen gekommen ist.
Fazit: Wenn wir ein hohes Maß an Personalausfall sowohl in der kritischen Infrastruktur als auch in allen anderen Bereichen im Juli/August vermeiden wollen, müssen wir dafür sorgen, dass die Fallzahlen nicht so stark ansteigen wie im Modell berechnet.
Schritt #3: Abschätzung Krankenhausbelastung
Mein Modell geht davon aus, dass die Hospitalisierungsquote bei BA.5 die gleiche ist wie bei BA.2 und berechnet damit die Anzahl der wöchentlichen Hospitalisierungen wie folgt: Wie man sieht geht aktuell die tatsächliche Anzahl der Hospitalisierungen (schwarze Linie) sogar noch schneller hoch als modelliert. Kein gutes Zeichen.

Auch bei der Belegung der Intensivstationen geht das Modell davon aus, dass BA.5 sich nicht anders verhält als BA.2. Damit ergibt sich im Juli eine Welle ähnlich wie im März/April: Und wieder liegt mein Modell eher zu niedrig.

Fazit: Diese hohe Belastung in zeitgleicher Kombination mit dem oben gezeigten Personalausfall ist ein starker Grund, das Fallzahlenwachstum bald zu stoppen.
Schritt #4: Abschätzung Longcovid
Es ist mehr als unglücklich wie wenig Raum die erhebliche Belastung der Betroffenen durch Longcovid in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit hat. Dabei handelt es sich hierbei neben schwerer Erkrankung und Tod um die größte verbleibende Bedrohung durch die Pandemie für den Lebensweg jedes Einzelnen. Es sind weit mehr davon betroffen als sich viele eingestehen wollen.
Um die Anzahl der Longcovid-Patienten abzuschätzen gehe ich wie folgt vor:
- Das UK ONS (Office for National Statistics) berichtet in seinem Bericht Self-reported long COVID after infection with the Omicron variant in the UK: 6 May 2022, dass 8%-15% der Studienteilnehmer noch 4-8 Wochen nach einer Infektion von lang andauernden Longcovid-Symptomen berichten. Wobei z.B. die 15% für Delta-Infektionen bei zweifach Geimpften gelten und 8% für BA.1/2 Infektionen bei Menschen, die dreifach geimpft oder 2x geimpft plus genesen sind.
- Vereinfachend und um einen unteren Mindest-Schätzwert für Longcovid-Patientenzahlen zu bekommen verwende ich im weiteren eine Longcovid-Rate von 8% (ab 8 Wochen nach Infektion).
- Aus der REACT Studie wissen wir, dass Patienten, die nach 8 Wochen noch Symptome haben die meisten auch noch 6-12 Monate später Symptome haben. Für meine Berechnung gehe ich davon aus, dass von den 8% (ab Woche 8) nach 12 Wochen noch 80% übrig sind (6,4% der Infektionen) und dann für 12 Monate Longcovid-Patienten bleiben. Es gibt zwar genügend Berichte über Patienten, die auch über 12 Monate hinaus noch Symptome haben, aber dafür habe ich keine belastbaren Zahlen gefunden.
Mit den geschilderten Vereinfachungen schätzen wir jetzt zumindest den unteren Mindestwert ab, und das ist auch richtig so, denn die Krankheitsbilder der Longcovid-Fälle sind z.T. sehr unterschiedlich. Für einige tausend Patienten, die für einige Monate nichts schmecken, wird man als Gesellschaft kaum erhebliche Einschränkungen rechtfertigen können. Aber wenn zigtausende Patienten monatelang nicht arbeiten können, quasi berufsunfähig sind, sollte uns das als Gesellschaft wohl doch sehr interessieren.
Aus Gesprächen mit Longcovid-Fachleuten habe ich mitgenommen, dass es bei den Longcovid-Patienten eine hohe Zahl an “Unsichtbaren” gibt: Patienten, denen es nicht gut geht, die aber in keiner Statistik auftauchen. Zum einen weil die Patienten selber den Bezug zur Corona-Infektion (noch?) nicht herstellen, oder weil sie sich aus Sorge um ihren Job/Ihre Existenz “irgendwie durchwurschteln”. Die Arbeitszeit wird hier und da etwas reduziert und alle Freizeit darauf verwendet die verbleibenden Aufgaben irgendwie zu stemmen. Das Problem dabei ist, dass Überlastung und körperlicher Einsatz die Longcovid-Symptome schlimmer machen. Es bräuchte Ruhe und Erholung, für Monate. Die These lautet: Da die schlimmste Welle bei uns gerade erst ein paar Wochen her ist, sind die vielen, dabei entstandenen Longcovid-Fälle noch gar nicht sichtbar.
Zur Berechnung der Anzahl der “Unsichtbaren” gehe ich von 25% der Longcovid-Fälle in den ersten 3 Monaten aus (am Anfang ist es noch nicht so schlimm und da tauchen auch einige noch in den Arbeitsunfähigkeits-Statistiken auf), danach von 50%.
Die Anzahl der Longcovid-Patienten ergibt sich damit wie folgt:

Was hier bemerkenswert ist: Erst in Juni realisieren viele Longcovid-Patienten der BA.1/2 Wellen, dass sie Longcovid haben (roter Pfeil). Die werden jetzt erst “sichtbar”. Landesweit haben wir es mit Millionen Patienten zu tun, wo ist die dafür nötige Versorgungs/Reha-Infrastruktur?
In Prozent der Gesamtbevölkerung sieht das so aus:

Der Wert von 1,4% an “Sichtbaren” bzw. 3% für alle Longcovid-Patienten im Juni 2022 erscheint plausibel, in UK geht man von aktuell 2 Mio Longcovid Patienten (self-reported) aus, bei 67 Mio Einwohnern sind das 2,9%. Die Daten in den USA sehen ähnlich aus.
Fazit: Wenn wir jetzt die BA.5 Welle ungebremst laufen lassen, steigern wir die Anzahl der Longcovid-Patienten sehr deutlich.
Nachgedanken
Mit den Impfungen haben wir die Anzahl der Toten und schweren Krankenhausfälle durch COVID schon relativ gut im Griff (zumindest solange keine fieseren Varianten aufkommen). Da wir davon ausgehen müssen, dass wir für einige Jahre noch ständig erhöhte Corona-Infektionszahlen mit immer wieder auftretenden Wellen haben werden (u.a. durch neue Varianten und weil Impfungen bisher keine langanhaltenden Schutz verleihen), müssten wir uns um drei Themen kümmern, um wieder näher an ein “normales Leben” heranzukommen:
- Impfungen: Regelmässige Auffrischungs-Impfungen würden helfen Wellen auszubremsen, idealerweise erzeugen neue, verbesserte Impfungen mehr als ein paar Monate Immunität => Forschung und Impfkampagnen nötig!
- Wir müssen Longcovid als die größte verbleibende Krankheitslast verstehen und lernen diese behandeln können => Forschung und Aufklärungsarbeit nötig!
- Wie müssen anlaufende Wellen frühzeitig und schnell reagierend ausbremsen mit “preiswerten” Maßnahmen um späteres, hartes Eingreifen zu vermeiden
Dafür braucht es hohe Investments in Longcovid-Forschung und Impfungen Bevölkerungs-Aufklärung sowie eine gute und zeitnahe Surveillance der Infektionslage (Abwasser- und Panel-basiertes Monitoring sowie Sequenzierungen).
Einfach zu sagen “wie müssen mit COVID leben lernen” mit der Konsequenz dann “nichts” zu tun ist keine Strategie und erzeugt unnötig viel Leid und Tod.
Die Pandemie ist nicht vorbei, auch (wieder) nicht nach der BA.5-Welle.
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