Der Entwurf zum “Notbremse”-Gesetz enthält drei fundamentale Konzeptfehler, alle haben mit der Inzidenz zu tun

Seit gestern wissen wir einige Details aus dem Entwurf des neuen Infektionsschutzgesetzes des Bundes, das in den nächsten 2 Wochen durch Bundestag und Bundesrat gebracht werden soll.

Abgesehen davon, dass das viel zu spät ist, enthält der aktuelle Entwurf aus meiner Sicht drei fundamentale Konzeptfehler:

  • 1. Das Gesetz orientiert sich an festen Werten der Inzidenz, die aber zeitgleich durch die zunehmende Rate der Geimpften in der Bevölkerung ihre Qualität völlig verändert
  • 2. Der Notbremse-Regelmechanismus bei Inzidenz 100 schaut auf den falschen Indikator (Inzidenz statt R-Wert oder Wachstum) und kann ohne eine Hysterese zum “ständigen Schwingen” zwischen “offen” und “zu” führen
  • 3. Das Gesetz formuliert kein gemeinsames Ziel, auf das wir alle hinarbeiten, nicht einmal eine Ziel-Inzidenz

1. Die Aussage der “Inzidenz” verändert sich

Die Inzidenz berechnet sich aus der Anzahl der Fälle in den letzten 7 Tagen geteilt durch die Anzahl der betroffenen Bürger, also z.B. einer Altersgruppe, eines Landkreises oder 83 Mio für ganz Deutschland. Die Aufgabe dieses Wertes ist die Verbreitungsgeschwindigkeit der Infektion zu bewerten. Steigt diese Zahl, beschleunigt sich dich Verbreitung.

Wenn jetzt aber ein zunehmender Anteil der betroffenen Bevölkerungsgruppe geimpft ist, dadurch selber nicht mehr schwer erkranken oder sterben und zu 80% auch die Ansteckung unterbunden wird, dann verändert sich die Aussage des Inzidenz.

Beispielrechnung ein Landkreis mit 100.000 Einwohnern

  • Fall 1: Keiner ist geimpft, Inzidenz von 100 heißt einer von 1000 Personen ist infiziert, mein Risiko bei einer Begegnung einem Infizierten zu begegnen ist 0,3%, in einem Klassenzimmer bei 25 Personen 7% (3-fache Dunkelziffer eingerechnet, siehe Online-Kalkulator von @entorb)
  • Fall 2: Alle Erwachsenen sind geimpft, die 20%=20.000 Unter-20-jährigen sind nicht geimpft. Das allgemeine Risiko bei einer Begegnung einem Infizierten zu begegnen ist immer noch 0,1%. Aber: die Inzidenz findet praktisch nur noch in der Gruppe der jungen Menschen statt, und ist dort somit beim 5-fachen, also 500. Für die Jugendlichen mit 25 Personen in der Schule liegt das Risiko einen Infizierten im Klassenzimmer zu haben bei 32%.

Ich habe das letzten Monat in Warum die Impfung die Messgrößen “Fallzahlen” und “Inzidenzen” kaputt macht ausführlich beschrieben.

Da wird jetzt also ein Bundes-Gesetz gemacht, dass jahrelang halten soll (?), aber dieser fundamentale Fehler bleibt drin?

2. Der fehlerhafte Notbremse-Regelmechanismus bei Inzidenz 100

Der Spiegel berichtet:

Hier wird versucht mit dem Regelungs-Eingangswert der erste Ableitung der Neuinfektion (Neuinfektionen pro Zeit) die zweite Ableitung (unser Verhalten und die Maßnahmen verändern den R-Wert bzw. das Wachstum der Inzidenz) zu steuern, ohne dabei auf die Geschwindigkeit der Veränderung zu schauen und noch dazu mit einer sehr kurzen Zeitkonstante von 3 Tagen.

Im schlimmsten Fall (bei sehr langsamen Wachstum) kann dies dazu führen, dass ein Landkreis zwei mal pro Woche alle 3 Tage zwischen Öffnungen und Schließungen hin und her springt, dazu würden die traditionellen wöchentlichen Schwankungen der Werte zusammen mit ein paar Übermittlungs- und Datenqualitäts-Problemen beim RKI schon völlig ausreichen.

Ich habe mal für jeden Landkreis ausgerechnet, wie viele Wechsel der Inzidenz es von unter auf über 100 bzw. von über auf 100 schon gegeben hat.

Hättest Du für Deinen Landkreis auch nur annähernd geahnt, wie oft dieser Wechsel schon da war?

Jetzt wendet man diese Grenze auf alle Landkreise an, lässt die Inzidenz wachsen bis 100, muss dann “zu” machen, bis es unter 100 ist, um dann wieder “auf” zu machen, sodass es wieder so wächst wie vorher, bis 100, => usw. usw.

Man würde also mit diesem Gesetzentwurf sicherstellen,

  • 1. dass alle Landkreise bis 100 wachsen werden und
  • 2. dass man sich ab dann immer um die 100 bewegt,

was zur Folge hat, dass niemand länger als einige Tage in die Zukunft planen kann. Nach Aktivieren der Notbremse sollte diese wenigstens bis zum Erreichen von z.B. Inzidenz 50 aufrechterhalten werden (“Hysterese”), dann kann man sicher sein, dass danach eine längere “offene” Phase möglich ist.

Ein weiteres zentrales Problem ist, dass hier auf die Inzidenz geschaut wird, und nicht auf das Wachstum bzw. den R-Wert. Wenn ein Landkreis lange Zeit eine niedrige Inzidenz von z.B. 20 hat, prima. Doch irgendwann startet dann doch ein Wachstum, und in dem Augenblick müssten wir eingreifen. Dann kann der Eingriff auch kurz sein. Aber nein, das Gesetz will warten bis der Wert bei Hundert ist, im schlimmsten Fall hat sich die Ausbreitung bis dahin sogar beschleunigt (R-Wert gestiegen), und ist um so schwerer wieder zu stoppen mit der Notbremse. Und man kommt auch nicht wieder zurück zu 20!

3. Was ist das gemeinsame Ziel?

Was im Gesetzentwurf komplett fehlt ist eine Formulierung der Ziele, die wir als Gesellschaft verfolgen. Aus den Zeilen des Gesetzes lese ich nur ein “wir wollen uns da irgendwie durchwurschteln”, also weiter “auf Sicht fahren”, ohne klares Ziel, wo man hinwill. Als würde man immer noch denken, dass die Pandemie im Sommer sowieso vorbei ist. Das blendet das unausweichliche Aufkommen einer “Post-Öffnungs-Welle” ebenso aus wie die durch Mutationen ausgelösten weiteren Wellen, in der B117 Welle stecken wir ja gerade drin, daraus könnten wir lernen.

Hier könnte man mal eine Inzidenz hin schreiben! 10. 20. Zur aller größten Not vielleicht noch 35. Aber bitte bitte nicht 100 oder 200.

Modellrechnung: Wenden wir mal die Notbremse aufs ganz Land an

Nehmen wir mal an alle Landkreise in Deutschland hätten die gleiche Inzidenz/Infektionsentwicklung, und wir “regeln” mit Öffnungen und Schliessungen so, dass ab 100 gebremst wird, und unter 100 schrittweise geöffnet wird. Parallel läuft das Impfprogramm. Dann sieht das Ergebnis meines Modells so aus: Ein Lockdown-Jojo ab Juli im 2-Monats-Takt, der zu Hundertausenden infizierten Jugendlichen führt, die noch nicht geimpft sind. Planbarkeit gleich null. Und genauso würde das auch pro Landkreis aussehen, nur dass es nicht synchron wäre mit den Nachbar-Landkreisen.

Grund: Die Gesamtinzidenz ist nicht mehr geeignet, um zu regeln!

Also, Verbesserungsvorschlag!

Dass der Grenzwert von 100 zu hoch liegt, lassen wir mal kurz beiseite (das könnte man ja im Gesetzentwurf auch noch schnell ändern). Der Grenzwert von 200, bis zu dem Präsenzunterricht gemacht werden darf, ebenso.

Was könnte man konzeptionell besser machen?

Die Notbremse sollte in jedem Landkreis immer dann starten, sobald und solange der 7-Tage-R-Wert über 1 liegt (oder solange die schon bestehende Inzidenz noch über 20 (oder lieber 10) liegt). Was dann am Ende eine NoCovid-Strategie ist, die es den meisten Menschen im Land erlauben wird, ein relativ normales und planbares Leben zu führen. Nur hier und da gibt es kurze Lockdowns zur Eindämmung von Ausbrüchen.

Aber wenn wir den vorliegenden Gesetzesentwurf durchziehen, haben wir einen JoJo-Lockdown-Sommer mit beständigen hohen Infektionszahlen und mindestens gut gefüllten Krankenhäusern, am Anfang mit Intensiv-Patienten und dann den LongCovid-Patienten.

Noch haben wir die Chance, mit einer Lockdown-Verschärfung wenigstens die totale Überlastung der Intensivstationen zu vermeiden und die Fallzahlen im ganzen Land schnell zu senken.

Das wird die Bundes-Notbremse sicher nicht schaffen, weil zu schwach, falsch konzipiert und zu spät.

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG

5 thoughts on “Der Entwurf zum “Notbremse”-Gesetz enthält drei fundamentale Konzeptfehler, alle haben mit der Inzidenz zu tun”

  1. Vielen Dank Herr Passler für diesen Blogeintrag. Ich kann Ihnen im Prinzip nur zustimmen und hoffe, dass sich diese Erkenntnis noch weiter verbreitet.
    Einen Kommentar muss ich aber zum ersten Punkt machen: Die Aussage der Inzidenz ändert sich meiner Meinung nach nicht. Die Berechnungen beruhen auf dem sehr verbreiteten Missverständnis, dass die Inzidenz ein repräsentativer Wert sei. Das stimmt aus statistischer Sicht nicht, weil es sich nicht um eine unabhängige Stichprobe handelt. Vielmehr ist der Inzidenzwert die untere, sicher bestimmbare Grenze, des aktuellen Infektionsgeschehens. Die tatsächliche Prävalenz liegt um einen praktisch nicht bestimmbaren Wert darüber. Rein formal ändert sich dementsprechend die Aussage der Inzidenz nicht, wenn ein Teil der Bevölkerung geimpft ist. Sie gibt weiterhin die untere Grenze der Infektionen an. Für diese Grenze wiederum spielt die Bezugsgröße eigentlich keine Rolle und ich denke, dass der Bezug auf 100,000 Personen wohl eher der Vorstellungskraft der Bevölkerung geschuldet ist (lose im Raum stehende 10,000; 20,000; … Infektionen lassen sich für Viele nur schwer greifen). Anders ausgedrückt: Es handelt sich bei der Inzidenz nicht um einen Anteil, sondern einen skalierten Absolutwert, aus dem sich das Begegnungsrisiko nicht abschätzen lässt.
    Das nur der Vollständigkeit halber. Praktisch haben Sie trotzdem Recht, dass der Wert fälschlicherweise oft so verwendet wird…

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  2. Danke!
    Ich kann wirklich nur zustimmen.
    Toll dass Sie sich so viel Arbeit machen und alles ausgerechnet haben.

    Das mit dem Inzidenzwert von 100 und 200 bei den Schulen ist ist eine Katastrophe auch für die Selbstständigen.
    Von der Gastronomie ganz zu schweigen.

    Ich hoffe nur, dass jemand der Verantwortlichen das entweder liest oder gar selbst draufkommt, bevor es zu spät ist.

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