Versuch einer Modellierung des Notbremse-Gesetzes für Deutschland bis Jahresende

Meine Kritikpunkte an der vom Bundestag wohl anvisierten Regelung habe ich ja bereits vorgestern in Der Entwurf zum “Notbremse”-Gesetz enthält drei fundamentale Konzeptfehler, alle haben mit der Inzidenz zu tun ausführlich beschrieben.

Aber wie würde denn der Rest des Jahres aussehen, wenn das Gesetz so verabschiedet wird und keine weiteren, darüber hinausgehenden Entscheidungen durch die Bundes/Landes-Regierungen kommen, die dann endlich sicherstellen würden, dass die Inzidenzen auch mal richtig sinken?

Mit meinem Prognose-Modell können wir versuchen das zu modellieren, damit wir mal ein Bild davon haben, was passieren KÖNNTE.

Wichtig: Ich lehne mich jetzt hier mit meinem Amateur-Pandemie-Modell schon sehr weit aus dem Fenster. Aber: Beim Erstellen der folgenden Berechnungen habe ich gemerkt, dass man damit viel darüber lernen kann, wie die verschiedenen Mechanismen der Pandemie ineinander greifen, und damit kann man besser verstehen, wie man es eventuell auch besser machen könnte. Auch wenn die gezeigten Zahlen natürlich nicht den Anspruch haben, quantitativ korrekt zu sein. Denn wir verlassen ganz klar den festen Boden, auf dem mein Modell beim Blick auf die nächsten 4-8 Wochen sonst aufbaut. Alles was weiter in der Zukunft liegt ist sehr sehr schwierig zu modellieren.

Mir geht es hier maßgeblich darum, das – sagen wir – “unglückliche” Wirkprinzip dieses Gesetzes mit ein paar Zahlen zu zeigen.

Am 11.4.2020 liegt die Inzidenz bei ca. 130, wie geht es dann weiter?

Also, gehen wir vereinfachend für unsere Modellberechnung davon aus, dass ganz Deutschland ein Landkreis mit 83 Mio. Bürgern ist. Natürlich passiert nicht in allen Landkreisen in Deutschland das Gleiche, es wird Landkreise geben, die viele besser und viel schlechter dastehen. Aber es hilft uns einen Eindruck zu gewinnen.

Mein Modell benötigt als Eingabeparameter für jeden Wochenzyklus den zu simulierenden R-Wert des Wildtyps, der sich praktisch aus dem Einschränkungen und dem Verhalten der Menschen ergibt. Daraus wird dann der R-Wert der inzwischen dominanten Mutation B.1.1.7 berechnet und die Inzidenzen pro Altersgruppe für die Folgewoche berechnet. Die Auswirkungen anderer Mutationen berücksichtigt mein Modell noch nicht – hoffen wir dass wir davon lange verschont bleiben (auch wenn das unwahrscheinlich ist).

Gemäß dem Gesetzentwurf wird also abhängig von der 7-Tage-Inzidenz den R-Wert (=Maßnahmen/Verhaltensänderungen) gesteuert. Für meine Modellierung verwende ich folgende “Regelung”:

Auf Basis der Inzidenz der Vorwoche werden folgende R-Werte verwendet:

  • Unter 100: Es gibt ähnliche Einschränkungen wie im Oktober 2020, also z.B. keine Grossveranstaltungen und reduzierte Gastronomie in Innenräumen (RWild=1,2)
  • 100-200: “Notbremse mit offenen Schulen”: Einschränkungen ähnlich wie Anfang Februar, plus 0,05 auf den R-Wert weil die Schulen offen bleiben (ergibt RWild=0,95), die 0,05 sind dabei optimistisch weil mit Tests abgesichert
  • über 200: “Notbremse mit Schulen”, Einschränkungen ähnlich wie Anfang Februar, aber Schulen zu (RWild=0,9)

Wenn ich diese Parameter in mein Modell reinstecke, sieht die Inzidenzkurve so aus (blaue Linie):

Zum Vergleich enthält die Grafik den Verlauf, wenn wir einfach weitermachen wie die aktuellen Restriktionen von heute (rot) und wenn wir heute einen R-0,2 Lockdown machen würden (grün).

Außerdem habe ich auch mit leicht erhöhten/verminderten R-Werten gerechnet (plus 0,05 in gelb, minus 0,05 in lila) weil sich in der Praxis sicher keine idealtypischen R-Werte ergeben werden, um den Spielraum aufzuzeigen. Man sieht aber, dass die langfristige Wirkung praktisch die Gleiche ist:

  • Ab Mitte Mai sinken die Fallzahlen (durch die Wirkung der Impfungen, wenn wir unser ambitioniertes Impfprogramm auch schaffen).
  • Über den Sommer liegen wir um Inzidenz 60 herum, ggf. etwas besser oder schlechter (Zur Erinnerung: Wir mitteln hier ganz Deutschland, es wird also bereits im Sommer viele Landkreise geben, die bereits “schwingen” damit dieses Bild in Gesamtdeutschland entsteht)
  • Im Herbst ergibt sich in allen drei Varianten landesweit das “Schwingen um Hundert”, wenn die fünfte (ja, fünfte, erkläre ich gleich) Welle richtig losschlägt.
  • Nach einem Lockdown hätten wir einen “Super-Sommer”, aber auch dann kommt es im Herbst zu einer erneuten Welle.

Was wirklich besonders hässlich ist an diesem Verlauf: Ab Juli findet das komplette Infektionsgeschehen praktisch nur noch bei den U16 statt, die einfach noch nicht geimpft sind. Dies kann man an dieser Grafik mit den Inzidenzen der Altersgruppen sehen (Regelung wie beschrieben):

Hier sieht man, dass sich nach dem “Öffnen” im Juni, weil wir ja unter 100 sind, sofort eine vierte Welle bei den Kindern und Jugendlichen entwickelt, die sich im Oktober, wenn die eingerechnete saisonale Sommer-Milderung der Ansteckungen wegfällt, zur 5. Welle führt. Auf die das Modell dann mit einem Sägezahn-Muster der R-Werte reagiert: Der JoJo-Lockdown. Alle 1-2 Wochen wird “geöffnet” und “geschlossen”.

Weil das Gesetz nur die “normale” Inzidenz als Beobachtungswert verwendet, kann es die gigantischen Inzidenzen bei den jungen Menschen nicht sehen und nicht darauf reagieren, das ist ein fataler Konzeptfehler!

Wenn man sich das als Fallzahlen anschaut, dann sieht man, dass ab Juli jede Woche ca. 50.000 Kinder und Jugendliche infiziert werden würden – JEDE Woche – mit weiterer Eskalation im Herbst!

Insgesamt hätten wir bis Ende des Jahres die Anzahl der Infektionen, die gerade bei 3 Mio liegt, nochmals auf 6 Mio verdoppelt.

Wie man sieht ist das Problem mit der Überlastung der Krankenhäuser durch schwere COVID-Verläufe und das Thema Verstorbene nahezu aus der Welt geschafft durch die Impfungen.

Aber 3 Mio Infektionen von heute bis Jahresende bedeuten eben auch 300.000 Longcovid-Fälle, und das sind fast nur Kinder und Jugendliche, deren Longcovid-Risiko “nur” 7% beträgt.

Parallel dazu haben wir – ohne Lockdown – den Sommer 2021 unter mindestens den Einschränkungen wie im Oktober 2020 verbracht und verbringen den Herbst ab September im Jojo-Lockdown. Ein normaler Kita/Schulbetrieb wäre bei Inzidenzen um 500-600 in der Schüler-Altersgruppe wohl im Sommer und Herbst undenkbar.

Was ist, wenn wir nach der Impfwelle einfach alles aufmachen?

Würden wir ab Anfang Juli einfach nahezu alle Einschränkungen aufheben (R=2) würde der Verlauf des Jahres in meinem Modell übrigens so aussehen:

Es ergäbe sich eine dramatische 4. Welle, erneute Krankenhaus-Überlastungen und ca. 9 Millionen Neuinfektionen. Am Ende wären wir aber dann auch bei Herdenimmunität mit Impfungen plus Neuinfektionen. Anfang Oktober wäre alles vorbei, und die nächste Immun-Escape-Mutation könnte frisch loslegen.

Was könnten wir besser machen?

Wir sollten jetzt, _sehr bald_, einen Lockdown, für 4-6 Wochen machen, der unsere Fallzahlen nahe null bringt:

  • dann haben wir die Überlastung der Kliniken im Mai wenigstens ein bisschen abgefangen
  • dann haben wir tatsächlich einen “Super-Sommer”
  • dann werden nicht Millionen Kinder infiziert (LongCovid!)
  • und mit Nutzung der NoCovid-Toolboxen schaffen wir es dann wahrscheinlich auch, die nächste Welle im Herbst zu kontrollieren. Auch die Ausbreitung von Mutationen könnten wir mit einer NoCovid-Strategie besser unterbinden.

Wenn sich aber bis zum Herbst eine der auf der Welt schon an verschiedenen Stellen aufgefallenen Immun-Escape-Mutation bei uns verbreiten sollte, gegen die die Impfungen nicht helfen, dann sind wir ohne NoCovid-Strategie wieder da, wo wir im Januar waren, als ich schrieb: Mutation B.1.1.7 ist fast wie wenn eine neue Pandemie starten würde (während die letzte noch nicht rum ist). Und eine neue Runde beginnt.

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG

3 thoughts on “Versuch einer Modellierung des Notbremse-Gesetzes für Deutschland bis Jahresende”

  1. Hallo
    Bei einfach weitermachen wie heute geht die Kurve Inzidenz 1.te Darstellung) sehr stark natürlich stark nach oben, fällt aber dann sehr stark bis fast auf 0, und bleicbt dort. Das kann eigentlich nicht stimmen. Da wär ja alles bald vorbei? Wir hätten auch noch einen guten Sommer. Bitte mal prüfen, Nicht jeder beurteilt Simultionen richtig. Ich habe mich im März 2020 sehr mit dem Thema beschäftigt und auch mit dem Gedanken gespielt, das Geschehen so ähnlich zu simulieren, hab dann aber gehofft, dass wir das nicht brauchen. Das war ein Irrtum, aber jetzt muss ich das nicht mehr tun, Dirk Pässler macht das besser.
    Grüße
    Johannes

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    1. Danke für das Feedback. Bei Kurve 1 (“Weitermachen”) würden wir alle aktuellen Einschränkungen (Gastro zu, usw.) durchhalten bis Dezember. Alle “Notbremse” Varianten beinhalten eine Öffnung unter Inzidenz 100, und das treibt die Zahlen wieder nach oben.

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