33 Pandemie-Szenarien für den Sommer am Beispiel Stadt und Landkreis Fürth

In diesem Artikel möchte ich am Beispiel von Stadt und Landkreis Fürth drei mögliche Strategien für unseren Umgang mit der Pandemie vergleichen. Ich werde für jede dieser Strategien gleich eine ganze Reihe von Modellläufen meines Prognose-Modells mit leicht veränderten Parametern machen und die Ergebnisse grafisch darstellen.

  • Strategie 1: “Worst Case“: Hier möchte ich zeigen, was passieren würde, wenn wir keine großen Eingriffe vornehmen würden.
  • Strategie 2: “Bundesnotbremse”: Die bayernweiten/bundesweiten Regelungen übernehmen die Kontrolle über Lockerungen und Verschärfungen an bestimmten Inzidenzwerten (z.B. 100/200).
  • Strategie 3: “Niedrig-Inzidenz-Strategie“: Wir bringen die Inzidenzen rasch runter, machen Fürth zu einer “grünen Zone” und verteidigen mit allen Mitteln die niedrige Ausbreitung des Virus, sodass der R-Wert kaum mehr über 1 steigt.

Was wir alle wollen

Wir wollen alle nicht ständig nachdenken müssen, was gerade erlaubt ist, oder was nicht. Wollen uns freier bewegen. Wir wollen diesen Sommer im Biergarten oder am See sitzen, Menschen treffen, wenigstens in kleinen Gruppen, und in Läden gehen können. Wie kommen wir da hin?

Wenn man die folgenden Ergebnisse sieht, wird sehr schnell klar, wie unterschiedlich unser Sommer aussehen wird in Abhängigkeit von unserer Wahl der Strategie.

Anmerkungen zum Modell

1. Eigentlich ist mein Prognose-Modell darauf optimiert, die nächsten 4-6 Wochen des Pandemieverlaufs vorauszuberechnen. Die folgenden Berechnungen gehen weit darüber hinaus und wir liegen außerhalb des hohen Genauigkeitsbereichs. Aber es geht nicht darum, quantitative genaue Vorhersagen zu machen, sondern ich möchte anhand einer ganzen Vielzahl von Modellrechnungen die qualitativen Unterschiede der verschiedenen möglichen Strategien aufzeigen.

2. Das Modell ist an vielen Stellen eher optimistisch ausgelegt, insbesondere im Grenzbereich zu sehr schneller Ausbreitung. Die extremen Szenarien sind daher sicher zu positiv und zu kurzlaufend dargestellt.

Vorab: Warum SK und LK Fürth?

Um die Zahlenwerte für uns alle greifbarer zu machen, ist es sinnvoll von realen historischen Daten auszugehen und aus diesen heraus weiterzurechnen. Meine Heimatregion Fürth eignet sich für die Simulationen aus mehreren Gründen besonders gut. Zum Einen gibt es mit den Klinikum Fürth ein relativ großes Alleinversorger-Krankenhaus für die Stadt und den Landkreis, während es in anderen Landkreisen oft mehrere Krankenhäuser gibt, deren Versorgungsbereiche über die Landkreisgrenzen hinausgehen. Damit können wir die Zahl der Intensivpatienten gut zur Kontrolle der Modelrechnung verwenden.

Außerdem sind SK und LK Fürth zusammen – was den Verlauf der Pandemie angeht – in 2021 auch ziemlich “durchschnittlich”, wie man beim Vergleich der lokalen Inzidenzen mit ganz Deutschland sehen kann:

Damit eignen sich SK&LK Fürth gut um den weiteren Verlauf mit meinem Pandemie-Modell weiterzurechnen. Für andere Regionen/Landkreise sind die folgenden Ergebnisse durchaus übertragbar, auch wenn der Ausgangspunkt natürlich individuell verschieden ist.

Strategie 1: “Worst Case

Unser Problem ist, dass die inzwischen dominante Virus-Variante B.1.1.7 wesentlich ansteckender ist als der “Wildtyp” und dadurch unsere aktuellen und geplanten Maßnahmen nicht ausreichen, um seine Verbreitung nachhaltig zu stoppen, auch die Impfungen nicht. Für die folgenden vier Szenarien gehen wir davon aus, dass es keine Notbremse oder verschärfte Lockdowns gibt.

  • Szenario A: Dauerlockdown “wie März”
    • Diese Kurve zeigt, was passiert wenn wir die Regelungen aus dem März einfach bis Ende des Jahres durchhalten würden (also Gastro zu, Läden zu, Schulen im Teilbetrieb, usw.). Ab Mai sinkt die Ansteckungsrate durch die Impfungen. Es dauert bis Juli bis niedrige Inzidenzwerte erreicht sind.
  • Szenario B: Lockerungen ab Ende April (R+0,2)
    • Wenn wir nochmals zusätzlich lockern würden, ohne die Lockerungen durch massive Kontrollmaßnahmen abzusichern (bekannt als “Modellregion”), schießt die Inzidenz auf riesige Werte hoch, und kommt dann, nach Erreichen der Herdimmunität, steil runter (inkl. 200 Tote in Fürth und Kontrollverlust im Klinikum).
  • Szenario C: Lockerungen ab Juni und nochmals ab Juli (jeweils R+0,1)
    • Wenn wir im Juni und Juli jeweils ein bisschen lockern, liegen wir den gesamten Sommer über Inzidenz 35, können nichts weiteres öffnen und laufen ab Herbst in die 4. Welle hinein.
  • Szenario D: Dauerlockdown “wie März”, Immun-Escape-Mutation ab Juli
    • In diesem Szenario habe ich die zusätzliche Ausbreitung einer Immun-Escape-Mutation simuliert, mit der sich auch 50% der Geimpften anstecken können und die 20% ansteckender ist als B.1.1.7. Damit sind wir direkt auf dem Weg in die 4. Welle, obwohl wir immer noch den März-Lockdown leben. Ich sage nicht, dass das so kommen wird, aber dass wir es demnächst noch mit einer weiteren Mutation zu tun bekommen, davon müssen wir ausgehen. Die Frage ist nicht ob, sondern wann.
  • Szenario E: Dauerlockdown “wie März”, 30% verlangsamte Impfungen
    • Was passiert, wenn wir die eingeplanten 2,5 Mio Erstimpfungen ab April nicht schaffen, sondern nur 70% davon? Die Zahlen sinken etwas langsamer.
  • Szenario F: Alles Öffnen ab Juli
    • Hier zeigt sich, dass wir nicht einfach alle Einschränkungen fallen lassen können, auch wenn fast alle Impfwilligen durchgeimpft sind: Es käme zu einer riesigen 4. Welle.

Also: Wenn wir den aktuellen Lockdown-Status durchhalten, dauert es bis Ende Juli bis wir niedrige Inzidenzen erreicht haben und sie würden nur unten bleiben, wenn wir bis auf weiteres mit massiven Einschränkungen leben. Eine schlimme neue Mutation könnten wir ggf. gar nicht kontrollieren. Ohne Lockdowns ist die nächste Welle sofort wieder im Anflug, eine “erträgliche UND stabile” Situation ist nirgends in Sicht.

Strategie 2: “Bundesnotbremse”

Bei dem Konzept der Bundesnotbremse werden zwei Inzidenz-Grenzwerte festgelegt, ab denen stufenweise schärfere Einschränkungen ausgesprochen werden, um den R-Wert wieder zu senken, bis die Grenzwerte wieder unterschritten werden, dann wird wieder geöffnet. Es wird nicht versucht, dauerhaft niedrige Inzidenzen zu erreichen.

Dabei ergeben sich mehr oder weniger häufige Jojo-Lockdowns in Abhängigkeit von den gewählten Parametern. Diese Parameter weiß niemand im voraus, ich kann diese für die Modellierung auch nur abschätzen. Also habe ich für diese Werte verschiedene Kombinationen angenommen und simuliert und man sieht, dass das Ergebnis praktisch immer das Gleiche ist:

Bis auf einige wenige Varianten, die einen etwas ruhigeren Sommer zeigen (hier hilft die “Saisonalität”), ergibt sich früher oder später ein schwingender Zustand (meist unter Inzidenz 100) zwischen Verschärfung und Lockerung (“Sägezahn-Kurve” oder “Jojo-Lockdown”). Keiner könnte mehr als ein paar Tage in die Zukunft planen, weil jederzeit wieder die “Umschaltung” erreicht sein könnte.

Wichtig ist dabei, dass ab Juli fast die komplette Infektionsdynamik nur in der Altersgruppe der U16 stattfindet, die noch nicht geimpft sind, hier am Beispiel eines Szenarios gezeigt: Jede Woche infizieren sich ab Juli ca. 50-200 Kinder&Jugendliche.

Dass das Konzept “Notbremse” einen Konzeptfehler hat, sieht man, wenn man alternativ als Grenzwerte die Inzidenzen 50 und 100 verwendet. Das gleiche Ergebnis, wenn auch auf etwas abgesenktem Niveau.

Erst wenn ich in meinem Modell einen sehr niedrigen R-Wert ansetze, bleiben die Kurven stabil unten. Diese kann man entweder durch einen Dauerlockdown erreichen (was wir alle nicht wollen), oder durch smarte Maßnahmen.

Was uns zur Niedrig-Inzidenz-Strategie bringt.

Strategie 3: “Niedrig-Inzidenz-Strategie“:

Diese Strategie unterscheidet sich in drei grundlegenden Bereichen von den beiden anderen gescheiterten Strategien, die wir bisher gesehen haben:

  • Das Ziel ist sehr niedrige Inzidenzen zu erreichen und mit einem ganzen Blumenstrauß an smarten Maßnahmen zu halten,
  • was dadurch begünstigt wird, dass einige, sehr wirksame Maßnahmen nur bei sehr niedrigen Inzidenzen tatsächlich funktionieren
  • und dies ermöglicht den meisten Bürgern ein weitgehend “freies” Leben (aber ganz ohne Einschränkungen geht es auch dann nicht)

Es handelt sich explizit um eine “Öffnungs-Strategie”: das ultimative Ziel ist, so viel Aktivitäten wie möglich zulassen zu können, den freiest-möglichen Lebenswandel zu ermöglichen, der in einer Pandemie möglich ist. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass es ohne Einschränkungen auf absehbare Zeit nicht gehen wird (in Quartalen gedacht, nicht in Monaten). Diese bittere Pille müssen wir alle schlucken.

Ganz wichtiges Element bei der Niedrig-Inzidenz-Strategie ist z.B. das Konzept “Test, Trace, Isolate”: Wenn die Inzidenzen genügend niedrig liegen können die Gesundheitsämer wieder alle Infektionsketten komplett zurückverfolgen und die potentiell Infizierten wirksam in Isolation schicken – und damit die Ansteckungskette erfolgreich unterbrechen. Bei einer Inzidenz von 100 oder gar 200 ist das schlicht nicht möglich. Damit gewinnen wir eine sehr wirksame Maßnahme, die im Alltag auf den Großteil der Bevölkerung nur einen minimalen Impact hat.

Auf die weiteren Details der möglichen Maßnahmen werde ich hier nicht eingehen, dazu haben sich schlauere Menschen als ich schon genügend Gedanken gemacht, mein Job hier ist den Unterschied am Modell zu zeigen.

Bei einer Niedrig-Inzidenz-Strategie muss man zuerst einen Lockdown machen, der schnell zu sehr niedrigen Inzidenzen (50,35,20,10?) führt. Nur ein kurzer Lockdown ist ein guter Lockdown! Dann muss er auch hart sein.

Und man muss vor dem Lockdown schon absprechen, bei welchen Werten man wieder aufmacht und WIE man danach weiter macht. Damit möglichst viele Bürger dabei mitmachen ist es wichtig, dass die Entscheider umfangreich das gemeinsame Ziel und ständig über den aktuellen Status informieren.

Für die folgende Modellierung habe ich als erstes Ziel “Inzidenz 35” angepeilt. Zunächst ist dafür ein Lockdown nötig, diesen habe ich ab dem 26.4.2020 modelliert. Abhängig davon, wie weit wir den R-Wert senken können, dauert es für Fürth 3 Wochen (R-0,4), 4 Wochen (R-0,3) oder 5 Wochen (R-0,2) um bei 35 anzukommen. Den Rest der Absenkung schaffen dann die weiterlaufenden Impfungen, die Saisonalität und das Wieder-Funktionieren der smarten Maßnahmen (wie Test-Trace-Isolate):

Im Mai wäre der ganze harte Lockdown zu Ende, und wir wären dann erstmal wieder beim aktuellen Lebenswandel plus geschlossenen Schulen/Fernunterricht und Home-Office-Pflicht.

Dann könnten wie langsam einzelne Maßnahmen des seit November laufenden Dauer-Lockdowns auflösen, insbesondere wenn wir sie smart absichern. Dazu gehören effektive Test-Strategien in allen Firmen und in allen Schulen, 3x pro Woche, usw. Insbesondere in den Schulen von Fachpersonal ausgeführt, keine Schüler-Selbsttest => viel zu fehleranfällig.

Sobald wir in einem Bereich wieder Infektionsketten finden, müssen wir einen Schritt zurückgehen und die Kontrollmaßnahmen verbessern.

Wie gesagt, da gibt es noch einen umfangreichen Maßnahmen-Katalog von der Nocovid-Gruppe.

Das Ergebnis

Wenn man sich die vier Grafiken anschaut wird glaube ich klar, worauf wie zielen müssen, damit wir einen guten Sommer haben: Niedrig-Inzidenz-Strategie. Alles andere verlängert und verschlimmert nur unser Leiden.

Was bringt das also für Stadt und Landkreis Fürth?

Wenn man sich die kompletten Modell-Berechnungen für “Niedrig-Inzidenz-Strategie” anschaut und den Unterschied zum Szenario “Bundes-Notbremse” sucht, zeigt sich: In Fürth gäbe es nach dem 14.4.2021

  • 37 statt 61 Todesfälle (-40%)
  • 200 statt 784 Longcovid-Opfer (-75%)
  • Niedrige Inzidenzen ab Mitte Mai (statt Ende Juni)
  • Keine 4. Welle, die insbesondere die U16 treffen würde
  • Ein Chance neue Mutationen früh zu erkennen und gezielt zu bekämpfen

Fürth hätte eine realistische Chance, ohne weitere große Wellenbildungen durch den Winter zu kommen.

Die hohe Belastung des Klinikums in der dritten Welle (35 ITS Betten Mitte Mai) ist aber in beiden Varianten unvermeidbar.

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG