Aktuelle Modellrechnungen: Wenn wir bis zu Wahl nix tun, müsste nach der Wahl eine Notbremse kommen

Wenn wir eine Ahnung davon bekommen wollen, wie es mit der Pandemie in Deutschland im Herbst weitergeht, müssen wir Antworten auf zwei Fragen suchen:

  • Wie entwickeln sich die Fallzahlen?
  • Wie entwickelt sich die Impfrate?

Für die nächsten 6-8 Wochen ist das gar nicht mal so schwer, denn es geht wohl einfach weiter wie in den letzten 6 Wochen. Fast alle anderen Schlüsselzahlen (Hospitalisierungen, ITS-Betten, Sterbefälle, LongCovid-Fälle) hängen – durch mathematische Regeln bzw. Quoten festgelegt – in Abhängigkeit von der Impfquote mehr oder weniger fix an diesen beiden Werten. Da gibt es zwar hier und da Unsicherheiten um den Faktor 2, aber bei einer Verdopplung alle 2-3 Wochen bedeutet das nur eine Verschiebung vom 2-3 Wochen hin oder her.

Aber langsam, gehen wir die Sache der Reihe nach durch:

Frage 1: Wie entwickeln sich die Fallzahlen?

Seit Wochen sehen wir durch die Delta-Variante ein exponentielles Wachstum in Deutschland, so wie vielerorts auf der Welt. Grob gesagt verdoppeln sich bei uns die wöchentlichen Fallzahlen alle 2-3 Wochen. Und nirgends kann ich ernsthafte Versuche erkennen das exponentielle Wachstum zu unterbrechen. Auch auf der gestrigen Konferenz der Ministerpräsidenten gab es keine einzige Entscheidung, die in der Lage wäre den R-Wert ernsthaft abzusenken. Man hat nicht einmal das Ziel, das Wachstum zu vermeiden (oder man kann sich nicht auf dieses Ziel einigen). R liegt bei 1,4-1,5 – viel zu hoch!

Wenn wir unsere Entwicklung mit UK, Israel und Island vergleichen, die alle z.T. erheblich höhere Impfraten haben als wir und gleichzeitig 10x so hohe Fallzahlen, brauchen wir uns wohl nur wenig Hoffnungen machen, dass das Wachstum einfach irgendwann von alleine aufhören wird.

Quelle: Our World In Data, eine gerade Linie im Log-Chart bedeutet exponentielles Wachstum

Außerdem kommen noch drei Aspekte hinzu, die uns noch weh tun werden:

  1. Durch die Bundestagswahl ist unsere Politik offensichtlich handlungsunfähig, vor Oktober sind kaum klare Eingriffe zu erwarten (Verdopplung alle 3 Wochen über 9 Wochen bringt unsere Inzidenz von aktuell um 25 auf 200).
  2. In den nächsten 6 Wochen enden die Ferien in allen Bundesländern und der angekündigte kompromisslose Präsenzschulbetrieb wird den R-Wert erhöhen, also das Wachstum beschleunigen (angesichts der Berichte aus den USA über deutlich mehr und schwerere Fälle bei Kindern durch Delta (Quelle 1, Quelle 2) bin ich skeptisch, wie lange man diese Präsenzkonzept überhaupt durchhalten kann).
  3. Die Hilfe der Saisonalität läuft aus, die im Sommer den R-Wert um ca. 20-30% absenkt. Das wird das Wachstum auch noch beschleunigen.

Grob überschlagen können wir also Anfang Oktober mit einer Inzidenz grob um 300 rechnen, die in den ungeimpften Altersgruppen noch viel höher liegt. Auch andere Modellierer kommen auf diesen Wert.

Und danach kommt es wohl zu einer Fortsetzung dieses Wachstums, sollte sich unsere Gesellschaft nicht doch noch dazu durchringen können, den R-Wert absenken zu wollen. Genau das aber wird meines Erachtens ohne erhebliche Einschränkungen nicht gelingen, weil Delta zu ansteckend ist (wobei ein März-2020-like Lockdown wohl nicht nötig wäre) und weil man nicht JETZT schon versucht durch kleinere Eingriffe das Wachstum wenigstens etwas auszubremsen. Wir sind dann wieder (!) zu spät dran und es hilft nur noch ein starker Eingriff ins Geschehen.

Frage 2: Wie entwickelt sich die Impfrate?

Eine höhere Impfrate bedeutet für die weitere Entwicklung zwei positive Hebel: Zum einen senkt sie die Ansteckungsrate, es stecken sich weniger Menschen an, und die, die sich anstecken, haben weniger oft schwere Verläufe. Aber die Impfungen machen nicht unbesiegbar, nur ca. 80% der Ansteckungen von Delta werden durch Impfungen vermieden.

Die Impfungen sind trotzdem unser bestes Werkzeug um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Jede Dosis zählt! Und trotzdem sieht es düster aus: Wir sind bei 62% Erstimpfungen und schaffen nicht mal 0,1% Zuwachs pro Tag. Leider tritt damit genau meine Modellvorhersage vom April ein.

Weil wir aktuell kaum noch jemanden impfen (und wir das Impftenpo erst wieder erhöhen müssten) UND weil es ca. 6-8 Wochen nach einer Erstimpfung bis zur Entwicklung des Schutzes dauert, bis diese Impfung eine Wirkung auf die pandemische Entwicklung hat, werden die Impfungen für die nächsten 2-3 Monate keine zusätzliche Hilfe beim Bremsen des exponentielles Wachstums sein. Der Zug ist abgefahren, wir müssen mit fast 40% Ungeimpften durch die 4. Welle kommen, da hilft uns erstmal auch keine (in-)direkte Impfpflicht mehr. Es fehlen 450.000 neue Impflinge, jeden Tag.

Das sieht nicht gut aus

Wir haben also die Situation,

  • dass wir ein beständiges, exponentielles Wachstum haben, gegen das in den nächsten 2 Monaten keiner etwas tun will (oder kann),
  • dass sich das Wachstum durch Ferienende und Auslaufen der Saisonalität eher beschleunigen wird und
  • dass zukünftige Impfungen in den nächsten 2-3 Monaten gegen diese Entwicklung keine wachsende Hilfe sein werden.

Also erscheinen mir die in der folgenden Grafik mit durchgezogenen Linien eingezeichneten Inzidenzen aus meinem Modell durchaus realistisch: Zur Bundestagswahl irgendwo zwischen 80 und 300.

Gleichzeitig verspricht Jens Spahn, dass es für Geimpfte keinen Lockdown geben wird. Passt das zusammen? Das am Ende kommt darauf an, welche Folgen sich aus den ansteigenden Fallzahlen ergeben. Schauen wir uns das an.

Die feste Kopplung der Pandemie-Folgen an die Fallzahlen und damit an die Inzidenz

In den letzten Wochen war die Entwicklung der Quoten für Krankenhaus-Aufnahmen, ITS-Aufnahmen und Verstorbene aus den in Deutschland öffentlich zur Verfügung stehenden Daten nur schwer bis gar nicht zu verfolgen. Sobald die Anzahl der wöchentlichen Fallzahlen unter 25.000 sank liefen die bisher sehr ruhig und zusammenpassend verlaufenden Quoten aus dem Ruder: Dieser Bereich ist in der folgenden Grafik grau hinterlegt. Die Grafik zeigt einen Vergleich der Hospitalisierungsraten und Sterberaten aus verschiedenen Quellen:

Daten: Risklayer, RKI, DGINA, Our World in Data, eigenes Modell (eigene Berechnungen/Grafik)

Die blauen Linien sind die Werte, die mein Modell aus den Impfraten berechnet und aus der Tatsache, dass Delta etwa doppelt so viele Menschen krank macht wie Alpha. Es ergibt sich, dass das erfolgreiche Absenken der Hospitalisierungsrate seit Jahresanfang durch die Impfungen von 6-7% auf etwas unter 4% wieder teilweise zurückgedreht würde auf über 4%, ähnlich wie in UK (aktuell ca. 3% mit höherer Impfrate).

Die ITS-Rate ist in meinem Modell sogar wieder auf den Wert vor der Impfkampagne zurückgegangen: 2%. Auch die Rate der Verstorbenen (“Case Fatality Rate”) steigt wieder an, von 0,4% mit Alpha und den Impfungen auf 0,6%-0,9% mit Delta. Wie gesagt, das sind Modell-Berechnungen, aber zumindest eine gute Arbeitshypothese.

Da wir – wie oben hergeleitet – in den nächsten 2-3 Monaten kaum Hilfe von neuen Impfungen bekommen werden, kann von einer Entkopplung der Folgen den Pandemie von den Fallzahlen keine Rede sein. Die Inzidenz bleibt wichtigster Frühindikator, der Rest ergibt sich zwangsläufig daraus.

Zur Erinnerung: Selbst wenn meine hier genannten Zahlenwerte um den Faktor 2 zu hoch sein sollten, würde dies für die Anzahl der wöchentlichen Patienten und Toten nur eine Verschiebung um 2-3 Wochen nach hinten bedeuten, weil sich in dieser Zeit die Fallzahlen schon wieder verdoppeln würden – wenn wir den Anstieg nicht mit geeigneten Mitteln stoppen.

Wie lange geht das noch gut?

Jede unnötige Infektion ist eine Infektion zu viel, aber weil wir uns als Gesellschaft im Moment nicht darauf einigen können, eine Niedrig-Inzidenz-Strategie zu fahren, werden die Fallzahlen weiter steigen. Nur, wie lange?

So blödsinnig es ist, die Pandemie nach den ITS-Betten-Kapazitäten zu steuern, aber das könnte ja wieder ein Weg der Politik sein. Wenn wir zum Beispiel erneut das Ziel verfolgen würden, die maximale Anzahl der benötigten ITS-Betten auf eine bestimmte Zahl zu begrenzen (ich nehme hier pessimistisch 10.000 Betten an, also nochmal 50% mehr als in der 2. Welle!), würde das in meinem Modell Verschärfungen in der ersten Oktober-Woche nötig machen, die den RWild-Wert um ca. 0,2 senken – das ist kein Lockdown wie im März 2020, aber das dürfte auf “Bundesnotbremse”-Niveau liegen.

Zu beachten sind hier die gigantischen Inzidenzen bei den Schülern und jungen Erwachsenen (über 500-700), die die Kontaktverfolgung komplett lahm legen würden, und wenn man noch Nachverfolgen könnte, dann wären 5-10% einiger Altersgruppen konstant in Quarantäne. Pro Tag 400 Tote und bis Ende des Jahres 1 Million gleichzeitige LongCovid-Fälle berechnet mein Modell, die meisten wären Kinder und junge Erwachsene.

Alternativ: Ohne eine Verschärfung der Maßnahmen Anfang Oktober würde der Anstieg noch bis etwa Weihnachten weitergehen und dann “von alleine ” auslaufen, weil dann einfach alle Ungeimpften infiziert wären: Das wäre die “Durchseuchung” (und wir hätten Ruhe bis zur nächsten Mutationswelle).

ABER: Es gäbe in der Modellrechnung >50.000 stationäre Zugänge pro Tag, wir bräuchten >30.000 ITS-Betten, fast 10.000 Menschen würden sterben pro Woche und wir hätten über 2 Millionen LongCovid-Patienten, auch hier wieder maßgeblich junge Menschen.

Es sind einfach noch zu viele Menschen ungeimpft und Delta ist zu gefährlich, wir können uns ein “Laufen-lassen” einfach nicht leisten.

Wie jetzt? Bringt denn die Impfung nix?

Wenn man die ernüchternde Bilanz bis hier liest kann man auf den Gedanken kommen, dass die Impfungen doch gar nix bringen. Aber da täuscht man sich gewaltig, wie die folgenden Grafiken aus meinem Modell zeigen (wobei das ein experimentelles neues Feature des Modells ist, zu dem mir noch externe Daten zur Verifizierung der Zahlen fehlen – in 4 Wochen haben wir diese Daten aber):

  • Links oben: Im Oktober werden die Impfungen jede Woche fast 1 Million Neuinfektionen verhindern (ohne Zinses-Zins-Effekt gerechnet, d.h. das ist nur auf die jeweilige Woche bezogen, denn wenn diese 1 Mio Infektionen stattfinden würden, würde ja in der Folgewoche noch viel mehr Ansteckende rumlaufen und Neuinfektionen auslösen)
  • Rechts oben: Der Anteil der Impfdurchbrüche steigt beständig an, aber wenn man bedenkt, dass ein Impfdurchbruch ohne Impfungen eine Vielzahl von Infektionen bedeutet hätte, ist das ein gutes Zeichen
  • Links unten: Die Impfungen vermeiden im Herbst über 90% der Hospitalisierungen und ITS-Patienten und 75% der Infektionen. Aber nur 60% der Toten, das hat mit der Altersstruktur zu tun.
  • Rechts unten: Der Anteil der geimpften Patienten und geimpften Todesfälle an der Gesamtzahl liegt im Herbst nach meinen Modellrechungen bei ca. 30-40%.

Man sieht also: Die Impfungen bringen uns auf einem viel besseren Level durch diese 4. Welle. Ein Szenario mit Delta ohne Impfungen möchte man sich nicht ausmalen…

Dabei gehören wir in Deutschland zu den glücklichen (reichen) Ländern der Welt, die Impfstoff im Überfluss haben. Die meisten Länder der Welt haben weniger oder nahezu keine Impfungen, die stehen Delta fast mit leeren Händen gegenüber. Dabei ist Delta viel schlimmer als Alpha. Sch**e. Da müssen wir mit ran, müssen mithelfen, denn die nächste Mutation wird da entstehen, wo die meisten Infektionen passieren. Damit können wir auch gleich die neue globale Zusammenarbeit für das Lösen der Klimakrise üben…

Wie gelernt haben: jede fittere, neue Mutation kommt auch bei uns an. Egal woher. Hier wie bei den Auswirkungen der Klimakrise sitzen wir alle im selben Boot. Hey, humans, act accordingly!

Quellen, Referenzen

Eine kleine Liste von Quellen und Referenzen, ergänzend zu den Links im Text, zu den oben genannten Zahlen und Fakten:

  • Mein Modell liegt inzwischen in Version 14 vor, die letzte öffentlich dokumentierte/verfügbare Ausgabe war Version 11, ein Update der Doku steht noch an.
  • Mein Modell verwendet diese Impf-Wirkquoten aus England:
  • In Island (70% Impfquote) liegt der Anteil der Geimpften an den Infektionen sogar bei 70% (Quelle).
  • Auch in Israel machen Geimpfte 70% der schweren Fälle aus (Quelle)
  • Es zeichnet sich ab, dass nach 5-6 Monaten der Impfschutz gegen Infektion um die Hälfte sinkt (Quelle).
  • d.h. es könnte also sein, dass mein Modell noch zu optimistisch ist, weil z.B. das Nachlassen der Impfwirkung noch nicht berücksichtigt wird und ich auf zu wenige Impfdurchbrüche komme – was aber den o.g. Verlauf der Ausbreitung nicht fundamental verändert, aber noch schneller macht.

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG