Rant: Warum müssen ich (und viele andere) unsere Freizeit damit verbringen, Pandemie-Datensammlungen und -Modelle zu pflegen?

Der folgende Text basiert auf meinem Vortrag anlässlich des “Global Summit to End Pandemics” des World Health Networks am 4.11.2021.

Ich sehe in Deutschland eine grundsätzliche Kluft zwischen Wissenschaft und Politik. Diese ist meistens verbunden mit einem weitgehenden Mangel an Verständnis selbst für die simpelsten Grundlagen des exponentiellen Wachstums und für wissenschaftliches Denken.

Wie man nicht mehr von der Pandemie überrascht wird

Ich glaube, dass dieses mangelnde wissenschaftliche Verständnis der Grund dafür ist, dass unsere Politiker es versäumt haben, eine vertrauenswürdige, unabhängige, gut finanzierte Institution zu installieren und zu fördern, die zuverlässige, tagesaktuelle Daten und szenario-basierte Modellrechnungen für die nahe und mittlere Zukunft liefert und die von Politikern wie von Bürgern für ihre Entscheidungen respektiert wird. Stattdessen ignorieren Politiker ständig Empfehlungen und Daten des Robert-Koch-Instituts — und zerstören damit die Vertrauenswürdigkeit des RKI.

Das Ergebnis: Ich kann nicht mehr zählen, wie oft Politiker genau das Gegenteil von dem beschlossen haben, was hätte beschlossen werden sollen. Zum Beispiel ständige Lockerung von Maßnahmen, während die täglichen Infektionen ansteigen.

Diese Situation hat ein regelrechtes Vakuum des öffentlich zugänglichen Pandemieverständnisses geschaffen, das inzwischen von Amateuren und Fachleuten gefüllt wurde, die auf freiwilliger Basis viele hervorragende Daten veröffentlichen.

Willkommen in meiner Twitter-Bubble!

Seit März 2020 veröffentliche ich Szenarien meiner Amateurmodelle. Aus den Rückmeldungen, die ich erhalten habe, weiß ich, dass sich viele Menschen – darunter auch offizielle Institutionen, Krankenhäuser und sogar Gesundheitsämter – für ihre Planung der nächsten Wochen auf meine Daten verlassen, weil einfach keine andere geeignete Datenquelle verfügbar und für sie zugänglich ist.

Ich denke, wir sind uns alle einig: Das ist eine unhaltbare Situation!

Ohne Modelle bleibt eine Pandemie immer… überraschend

Entweder arbeiten die Gesundheitsbehörden auf verschiedenen Regierungsebenen nicht mit Modellen oder sie haben keine Modelle für ihren Verantwortungsbereich oder sie teilen diese nicht mit den darunter liegenden Regierungsebenen und der Öffentlichkeit. Beide Theorien sind einer modernen Demokratie in einem der am weitesten entwickelten Länder der Welt nicht würdig.

Jetzt kommt noch unsere aktuelle, unglaublich hohe Testpositivrate von über 12% hinzu (was bedeutet, dass wir nicht annähernd genug testen). Das ist fast so, als ob wir gar nicht wissen wollen, was los ist.

Das Resume ist klar: Wir fahren fast bewusst blind durch diese Pandemie. Kein Wunder, dass wir immer wieder Sätze wie „Damit hat niemand gerechnet“ hören.

Was Amateur-Modelle leisten

Mit meinen Modellen versuche ich, zwei Perspektiven zu vermitteln: Ich versuche jeweils meine bestmögliche Vorhersage für die nächsten 4-6 Wochen zu geben und ich teile Szenarien, die die Auswirkungen bestimmter Verhaltens- und Politikänderungen über einige Monate zeigen, um Daten für Entscheidungen bereitzustellen.

Wie immer bei der Arbeit mit Modellen habe auch ich mal gute und mal schlechte Vorhersagen veröffentlicht, die sich als mehr oder weniger richtig herausstellten. Aber zumindest sind diese Daten besser als zu schätzen, zu raten oder… zu hoffen.

Schauen Sie sich die linke Grafik an: Seit Juni liegt die tatsächliche Inzidenz immer innerhalb meines 6-Wochen-Vorhersagebereichs (grau). Für 2-3 Wochen in der Zukunft waren fast alle meine Vorhersagen plus/minus 50% richtig – das ist ein guter Wert für eine exponentielle Entwicklung. Die Grafiken auf der rechten Seite zeigen, dass mein Modell die Anzahl der Patienten und Todesfälle sowie Durchbruchinfektionen ziemlich genau vorhersagen kann.

Wenn ein Amateur diese Genauigkeit in seiner Freizeit erreichen kann, stellen Sie sich vor, was ein Team von Vollzeit-Profis erreichen könnte? Aber unsere Führung muss das auch wollen!

Die nächsten Wochen sehen für Deutschland gar nicht gut aus

Mein Modell und auch andere Modelle sagen für die nächsten 3-6 Wochen eine massive Welle für die ohnehin geschwächten Krankenhäuser in Deutschland voraus. Gleichzeitig schaffen eine Regionen gerade die Masken ab.

Wieder sind wir in der Situation, dass Politiker genau das Gegenteil von dem entscheiden, was getan werden muss. Oder sie entscheiden sich gar nicht. Sie verweigern ihre Arbeit!

Wenn die aktuelle Entwicklung ungebremst weitergeht, werden wir nach meinem Modell und nach einigen anderen (Amateur-) Modellen Anfang Dezember mehr ITS-Patienten haben als in jeder anderen Welle zuvor.

Und diese Zahl wird weiter exponentiell wachsen, wenn wir nicht SCHNELL unsere Eindämmungsmaßnahmen verbessern.

Das Unterlassen der frühzeitigen Eindämmung durch die Entscheider, unsere miese Impfrate und die mit der Zeit nach der Impfung schwindende Immunität in Verbindung mit der hohen Ansteckungsgefahr von Delta und seinen Mutanten werden in diesem Winter Einschränkungen erforderlich machen, sonst erleben wir einen düsteren Winter.

Das ist die harte Wahrheit, die wir den Bürgern und Politikern unseres Landes zumuten können müssen, wenn wir sie wie gebildete Erwachsene behandeln wollen. Wer darin “Panikmache” sieht ist Teil des Problems und hat die Pandemie auch in Welle 4 noch nicht verstanden.

Meine Hauptpunkte

Mit diesem Artikel möchte ich drei Kernaussagen rüberbringen:

  1. Eine massive Winterwelle kommt. Wir müssen JETZT handeln.
  2. Bevor sie als Politiker Entscheidungen treffen – Hören sie auf Wissenschaft und Modelle! Diese zu ignorieren ist dumm unklug und fällt ihnen unweigerlich auf die Füße.
  3. Wir brauchen eine Institution mit Fachleuten, die unseren Citizen-Scientist-Job übernehmen, damit ich (und alle anderen Freiwilligen) endlich wieder unseren anderen Hobbys nachgehen können.

PS: Hier gibt es Vortrag als Video:

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG