Modellrechnungen: Es wird Zeit die Doomsday-Szenarien zu zeigen

Kurzfassung

Die aktuellen Modellrechnungen sehen wirklich schlecht aus. Wir haben so lange mit Reaktionen gezögert, dass jetzt auch ein schnelles und entschiedenes Handeln eine zeitnah eintretende Überlastung des Intensiv-Systems in 1-3 Wochen nicht mehr verhindern kann. Für den Rest des Gesundheitssystems dürfte das Gleiche gelten.

  • In der Woche des 15.11. überschreiten wir in allen Szenarios 4.000 mit COVID belegte ITS-Betten, das scheint aus heutiger Sicht unvermeidlich.
  • Selbst das optimistischste “Wunder”-Szenario erreicht als Spitze fast 10.000 ITS-Betten um Weihnachten.
  • Alle anderen Szenarios überschreiten die Anzahl der “betreibbaren ITS Betten” deutlich, die kaum vorstellbaren Spitzenwerte liegen um den Jahreswechsel.
  • Insgesamt kann man sagen: Wir bekommen eine Monsterwelle. Und nur schnelles, entschiedenes Handeln von Bürgern und Staat kann noch schlimmeres verhindern.

Modellierer-Hinweis

Es folgen Szenarien, die versuchen aus dem heutigen Stand der Daten und bestimmten Annahmen ein Bild der Zukunft zu zeichnen und insbesondere die Unterschiede dieser Szenarien aufzuzeigen. Es handelt sich nicht um Vorhersagen, besonders bei allem was mehr als 2-3 Wochen in der Zukunft liegt gibt es enorme Unsicherheiten. Diese sind in den Grafiken als graue Flächen markiert.

Es ist wichtig zu wissen, dass die größte Unsicherheit im Verhalten der Menschen (=Bürger und Politik) liegt, und daraus abgeleitet liegt die zweitgrößte Unsicherheit in der Berechnung des künftigen Inzidenzverlaufs. Die sich aus dem Inzidenzverlauf ergebenden Patienten/Todes-Zahlen sind dagegen wieder sehr genau.

Einleitung

Seit dem Auftauchen von Delta im Sommer habe ich praktisch in allen eskalierenden Modellrechnungen, die ich hier gezeigt habe, irgendwann im Herbst einen Lockdown eingerechnet, weil die sich sonst ergebenden atemberaubenden Verläufe sehr seltsame Dinge in meinem Kopf gemacht haben. In meiner Zeit als Rettungsassistent hatte ich glücklicherweise nie einen lokalen/regionalen Katastrophen-Fall im Dienst miterleben müssen. Aber wie wir gleich sehen werden, gibt es Szenarien, die einem überregionalen K-Fall entsprechen – schon in 2-4 Wochen.

Bisher konnte ich mir nicht vorstellen, dass Deutschland, Platz 5 von über 200 Ländern auf der Liste des Human Development Index, einer derartigen Entwicklung untätig zuschaut, ohne sich vorzubereiten. Und jetzt kommt es sogar noch schlimmer: Wahrscheinlich lässt die Politik mit dem Auslaufen der “epidemische Lage von nationaler Tragweite” am 25.11.2021 auch noch mitten im stärksten Anstieg zu, dass Eingriffe massiv erschwert werden oder am Ende nur unabgestimmt lokal/regional stattfinden.

Den weiteren Verlauf des Pandemiegeschehens können wir besser berechnen als den Verlauf der politischen Entscheidungen. Je weiter und ungestörter wir dabei die Inzidenzen eskalieren lassen, um so weniger mögliche Maßnahmen bleiben noch übrig, die überhaupt noch eine Wirkung auf den nachfolgenden Verlauf haben könnten.

Daher ist die zu bevorzugende Variante die am sichersten zu berechnende Variante — und das ist die, bei der der R-Wert bei Überschreitung von R=1 möglichst früh möglichst stark durch Maßnahmen gebremst. Aber je weniger gebremst wird, je weiter und länger sich R über 1 halten kann, um so unsicherer werden die Bilder. Wie man ein 83 Millionen-Volk sehenden Auges diesen extremen Unsicherheiten aussetzen kann, wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben.

Rechnen wir also mal durch, wie einige mehr oder weniger gebremste Durchseuchungsszenarien aussehen. Dabei ist eine Durchseuchung der Bevölkerung, bei der auch x% der Geimpften infiziert werden, keine Garantie, dass wir im späten Frühling oder spätestens nächsten Winter nicht nochmal eine Welle bekommen ohne wenigstens die einfachsten Schutzmaßnahmen (Masken, Tests, AHA+L) , denn Infektionen schützen deutlich schlechter vor Re-Infektionen und mit der Zeit sinkt der Immunschutz vor Ansteckung für Geimpfte wie für Ungeimpfte. Bis zum nächsten Winter könnte sich rechnerisch wieder genügend “Brennstoff” für eine weitere große Welle finden. Wenn wir diese wieder zulassen (gibt es einen Lerneffekt?).

Szenario A-H

Also schauen wir uns ein paar Szenarien an, wobei ich bewusst offen lassen, wie die Bremseffekte entstehen (Bürgerverhalten oder Maßnahmen? siehe unberechenbare Politik), das macht mathematisch auch keinen Unterschied:

  • Szenario A (Doomsday): Fortschreibung des aktuellen Verlaufs, ungebremst
  • Szenario B: Bremsen ab 8.11. senkt R-Wert um 5%, Wirkung sichtbar ab 15.11.
  • Szenario C: Wie B, Bremsen wirkt um 10% ab 22.11.
  • Szenario D: Wie C, Bremsen wirkt um 15% ab 29.11.
  • Szenario E: Wie D, Bremsen wirkt um 20% ab 6.12.
  • Szenario F: Notbremse wirkt ab 22.11. (R-Senkung um 25% über 2 Wochen)
  • Szenario G: Not-Notbremse wirkt ab 6.12. (R-Senkung um 25% in 1 Woche)
  • Szenario H: Ein Wunder geschieht: R sinkt um 15% zum 15.11. und nochmal um 15% zum 29.11.

Wichtig: Wenn wir eine Wirkung z.B. ab 22.11. haben, dann wurde ca. 1 Woche vorher das Bremsen eingeleitet – so lange dauert es, bis Verhaltensänderungen im R-Wert ankommen.

Beim Betrachten der folgenden Kurven bitte in Erinnerung halten, dass wir Inzidenzen über 500-800 gar nicht messen können mit unserem Testkonzept, da geht dann nur noch die Dunkelziffer nach oben (unsere üble und ständig steigende Positiv-Rate von bereits über 12% deutet jetzt schon klar an, dass wir viel zu wenig testen). Auch die ITS-Patientenzahlen werden irgendwann nicht mehr korrekt erfasst werden können. Deswegen schneide ich die Graphen auch oben ab, auch weil mein Modell wahrscheinlich für so extreme Durchseuchungs-Prozesse nicht gut geeignet ist. Die Infektionen finden aber trotzdem statt… Am Ende können wir dann nur noch die Toten zählen.

Kommen wir also zu den Szenarien:

Selbst im Szenario H (“Ein Wunder geschieht”) werden wir mehr ITS-Betten brauchen, als in der 2. Welle, das 2,5-fache dessen was wir im Moment verkraften könnten.

Nur Szenario F (“Notbremse 22.11.”), das am 22.11. mit 25% vom R-Wert wegnimmt, bleibt noch unter der Zahl der überhaupt Deutschlandweit betreibbaren Betten. Die harte Bremsung des Szenario G in der Woche vor dem 6.12. kommt dagegen viel zu spät.

Die schrittweisen Bremsungen der Szenarien B bis E führen auch zu riesigen Belastungen.

Insgesamt kann man sagen: Wir bekommen eine Monsterwelle. Aber: Noch könnte ein schnelles, entschiedenes Handeln von Bürgern und Staat in diesen Modellrechungen das Schlimmste verhindern.

Versuchen wir mal diese Zahlen einzuordnen

10.000 ITS-Betten, oder 20.000…. Was heißt denn das?

  • In der 2. Welle lag der Spitzenwert bei 6.000. Seit dem ist aber m.E. die Leistungsfähigkeit des ITS-Systems gesunken wg. vieler Kündigungen.
  • “3-4.000 COVID Patienten sollten bei guter Verteilung aktuell intensivmedizinisch möglich sein, aber dafür braucht es jetzt eine Bremse”, sagt Dr. Karagiannidis, wissenschaftlicher Leiter des DIVI Intensivregisters.
  • Das DIVI Intensivregister meldet 21.863 betreibbare Betten, von denen aber die meisten für nicht-COVID-Patienten gebraucht werden. Von aktuell 19.000 Betten sind nur 2.500 Betten mit COVID-Patienten belegt, der Rest wird für alle anderen gebraucht.

Mein Einschätzung ist, dass spätestens eine deutschlandweite COVID-ITS-Bettenzahl über 10.000 mindestens regional zu K-Fall-Situationen führen wird, die mit London 2020 vergleichbar sind, als Krankenwägen stundenlang vor Kliniken in Schlangen warten mussten zur Übergabe – und für die nächsten Einsätze nicht verfügbar waren. Einen Unfall oder Infarkt dürfte man in so einer Phase nicht haben, wenn es Stunden dauern könnte, bis ein Fahrzeug des Rettungsdienstes auftaucht. Von Risiko-Sport und Heimwerken sollte man evtl. die Finger lassen, die internistischen Notfälle haben diese Wahl aber nicht. Zur Einordnung: In 2016/2017 gab es 16 Mio Einsatzfahrten des Rettungsdienstes, also jeder zehnte Bürger benötigte den den Rettungsdienst einmal pro Jahr. Das betrifft uns alle!

Die weiteren Folgen am Beispiel Szenario F (Notbremse wirkt ab 22.11.)

Die folgenden Charts zeigen exemplarisch, was sich als Auswirkungen neben den ITS-Patienten entwickeln würde, wenn wir in der Woche des 15.11.2021 deutliche Einschränkungen aussprechen:

Die Notaufnahmen und Normalstationen würden eine Welle erleben, die fast 3 mal so hoch ist, wie in der 2. Welle, die Anzahl der Verstorbenen pro Woche liegt auf dem Niveau der der 2. Welle. Das läuft dann bis in den März 2022. Insgesamt käme es zu ca. 70.000 Toten nach dem 1.11.2021 und zeitweise über 2 Millionen Long-Covid-Patienten.

Die Doomsday-Szenarien

Damit man eine Ahnung bekommt, wie weit das eskalieren kann, wenn wir das jetzt nicht gebremst bekommen, zeige ich einmal das Szenario A (“Doomsday”), eine ungebremste Weiterschreibung der aktuellen Entwicklung. Ist klar, dass das nie so eintreten wird, und dass mein Modell für diese extreme Durchseuchungsperspektive sicher nicht gut geeignet ist. Also bitte mit viel Langmut betrachten, auch weil ich hier jetzt das Vorhersage-Zeitfenster bis zur Jahresmitte aufmache.

Aber was man sieht: Ein ungebremstes Durchlaufen wäre Ende Januar abgeschlossen, dann findet das Virus keine ansteckbaren Ungeimpften und Geimpften mehr. Bis dahin wären mehr als 250.000 Menschen verstorben. Die Situation im Gesundheitssystem bei 150.000 Hospitalisierungen in der Woche mag sich sicher keiner ausmalen.

Wenn wir gerade nicht genug tun, also z.B. es nur schaffen würden, den R-Wert um 15% abzusenken, dann sieht das so aus: Die Welle läuft bis März und wir haben 200.000 Tote.

Jeder/jede, der/die jetzt gegen Bremsmaßnahmen ist, würde die Möglichkeit einer weiteren Entwicklung in diesen Größenordnungen akzeptieren. Oder er/sie zeigt mir bitte eine Modellrechnung, mit der er/sie zu einem völlig anderen Ergebnis kommt. Die würde ich gerne sehen.

Die gute Nachricht

Die gute Nachricht ist, dass mit “nur” 20% Absenkung des R-Werts die Kurve genügend gebeugt wird, dass die Fallzahlen wieder sinken – auch wenn wir damit zu spät kommen um die große vierte Welle zu vermeiden, wir haben keine Alternative.

In der ersten Welle, als wir Community-Masks genäht haben und die Menschen Essenportionen für das Personal der Kliniken gekocht hatten, wäre das kein Problem gewesen. Allen war klar, wir müssen zusammenhelfen. Aber jetzt? Monatelang wurde kommuniziert “wer geimpft ist, für den ist die Pandemie vorbei” und “kein Lockdown für Geimpfte”. Das Erwartungsmanagement der deutschen Politik war eine Katastrophe. Jetzt müssen wir in sehr kurzer Zeit das Verständnis entwickeln, dass wir uns nochmal anstrengen und einschränken müssen, und dass auch Geimpfte getestet werden müssen. Wahrscheinlich dämmert es dann auch dem einen oder anderen schon, dass wir auch nächstes Jahr noch nicht wieder beim uneingeschränkten Leben angekommen sind.

Ich glaube noch daran, dass wir eine Chance hätten, die 20% zu schaffen, gemeinsam. Wenn jeder von uns jeweils einen von drei Kontakten vermeidet, dann wären wir schon in einer guten Größenordnung. Dazu sollte sich jeder in einer möglichst kleinen “Social Bubble” befinden.

Im Covid Mobility Project kann man sehen, dass wir alle von April bis August stetig mehr Kontakte hatten, die jetzt wieder etwas zurück gehen (grüne Linie), wahrscheinlich teilweise saisonbedingt (weniger Begegnungen draußen). Aber: Die “Buntheit” der Kontakte steigt seit August stetig (rosa Linie). Wir treffen uns wieder mit mehr VERSCHIEDENEN Menschen, und feuern damit die Größe unserer Kontaktnetzwerke an und fördern somit die Ausbreitung des Virus. Wir müssten uns weniger mit weniger Menschen treffen!

Und die Spikes am Helloween-Wochenende machen mir auch große Sorgen, das könnte die explosive Entwicklung der letzten Woche mit angefeuert haben. Man stelle sich nun vor, wie eine Adventszeit mit weitverbreiteten Weihnachtsfeiern in dieser Grafik aussehen würden… Ohje.

Zu den freiwilligen Verhaltensänderungen kommen 2G-Regeln hinzu, die die Ungeimpften zumindest teilweise “aus dem Verkehr” ziehen, sodass ihr Beitrag zur Verbreitung reduziert wird.

Das müßte reichen. Zumindest aus mathematischer Sicht.

Und am Ende muss allen klar sein: Ein “Durchlaufen” lassen der Infektionen geht schlicht nicht, nicht jetzt, und nicht in der 5. Welle. Siehe Doomsday-Szenarien oben. Weil das unsere Gesellschaft für Wochen an den Rand der Stabilität bringen würde.

Also gibt es nur einen Ausweg: Impfen. Alle. (OK, fast alle.)

Annahmen/Methoden

Alle Berechnungen wurden mit Version 21 meines Modells erstellt.

  • Bis Jahresende wird eine Zweit-Impfrate von 70% angenommen.
  • Es wird angenommen, dass wir 10% der Impfungen 6 Monate nach der 2. Impfung boostern.
  • Ein Nachlassen der Impfwirkung (-8 Prozent-Punkte pro 10 Wochen, d.h. von 84% Schutz gegen Infektion kurz nach der 2. Impfung auf 76% 10 Wochen später, für 30 Wochen)
  • Neue Mutanten wie z.B. AY.4.2. (10% höhere Ansteckungsrate) wurden nicht berücksichtigt
  • Bremsende Ferienwirkungen der Herbst- und Weihnachtsferien sind eingerechnet
  • Eine Beschreibung einer älteren Version des Modells gibt es hier, das muss ich mal aktualisieren.
  • Dass sich die Case-Fatality-Rates deutlich erhöhen bei Überlastungs des Gesundheits-Systems wird nicht berücksichtigt.

Nachtrag

Einige Zitate aus dem Interview im @derspiegel mit Prof. Thorsten Lehr, Modellierer, die praktisch das gleiche aussagen wie meine Tweets die letzten Tage.

“Wenn nichts passiert, werden wir Ende des Monats locker bei Inzidenzen um 300 oder 400 sein.”

"Zwischen 20 und 25 Prozent würden beim derzeitigen R-Wert von knapp über eins ausreichen, damit würde das schnelle Wachstum durchbrochen, die Zahlen würden wieder sinken."

“Wir brauchen flächendeckend 2G, besser noch 2G plus”

https://www.spiegel.de/wissenschaft/corona-inzidenzen-in-deutschland-wir-brauchen-flaechendeckend-2g-a-791a4df3-98a2-4ed7-a587-a63e2c3d3a16?sara_ecid=soci_upd_KsBF0AFjflf0DZCxpPYDCQgO1dEMph

Originally tweeted by Dirk Paessler (@dpaessler) on November 9, 2021.

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG