Die aktuellen Modellrechnungen sehen nicht gut aus

Kurzfassung

  • Zeitpunkt für Lockerungen ungeeignet, insb. in diesem Umfang
  • In Modell schießen Fallzahlen und Krankenhausbelastung im April nach oben
  • Nur das optimistische Szenario scheint mir noch erträglich zu sein.
  • Um dies zu erreichen dürften alle Bürger in Deutschland die Lockerungen nicht einmal im Ansatz ausnutzen.
  • Ohne neue staatliche Eingriffe, egal ob mit “Hotspot-Regelung”, Schnell-Neuauflage des IFSG oder wie auch immer, wird es schwierig.
  • Brauchen wir eine Nachbesserung des IFSG in ein paar Wochen?

Hinweis für alle Anti-Modell-Fans: Hier geht es nicht darum, dass wir lockern (das hat zum richtigen Zeitpunkt natürlich seine Richtigkeit, wir wollen alle möglichst viel Normalität im Sommer haben), sondern es geht um Zeitpunkt/Abfolge der Lockerungen.

Achtung bei Zeitachse und Peak-Höhe der Grafiken: Bei allen Zeitverlaufs-Grafiken bitte beachten, dass es nahezu unmöglich ist, den tages-genauen Zeitpunkt (und damit auch die Höhe) des Peaks vorherzusagen. Kommt der Peak einige Tage früher, ist er auch niedriger. Und trotzdem, mein Modell hatte schon Mitte Dezember 2021 den BA.1-Peak im Februar (abgesehen von steigender Dunkelziffer wg. Testveränderungen) und den Verlauf danach sehr gut vorhergesagt.

Einleitung: Ein fast unberechenbares Risiko

Wir haben uns – ohne Not – in eine sehr schwierige Situation manövriert, unsere Risiken für in den nächsten Wochen sind groß wobei die Spitzenwerte kaum berechenbar bleiben.

Als Modellierer schaue ich ziemlich fassungslos auf die aktuelle Situation in Deutschland. Das ist nahe am “perfect storm“:

  • Wir haben die höchste Neuinfektionsrate pro 7 Tage in der ganzen Pandemie.
  • Wir wussten noch nie so ungenau wie viele Infektionen gerade stattfinden und um wieviel diese Zahl gerade anwächst (Positiv-Rate mit >50% auf dem höchsten Stand der gesamten Pandemie und steigend), wir wissen nicht wie weit wir die echten Zahlen unterschätzen.
  • Wir haben noch nie bei einem so starken Anstieg der Infektionszahlen nochmal so starke Lockerungen oben drauf gepackt (“Öl ins Feuer gießen”).
  • Wir haben noch nie so viele und so starke Lockerungen in so kurzer Zeit gemacht, ohne zwischen den Schritten wenigstens ein paar Wochen lang zu schauen, wie groß deren Wirkung ist.
  • Wir wissen nicht, in wie weit die Bürger den Wegfall der staatlichen Regelungen mit machen bzw. vernünftigerweise weiter mithelfen, die Infektionszahlen niedrig zu halten.
  • Wir wissen noch nicht genau, wie gross die Krankheitslast (Rate der Hospitalisierungen, Rate der ITS-Zugänge, Sterberate) durch Omikron pro Fall ist (auch weil sich die Fallzahlen beständig in der Qualität verschlechtern).
  • Sollten wir in 2-3 Wochen merken, dass wir dabei einen Fehler gemacht haben, gibt es nur noch einen reduzierten Werkzeugkasten an Maßnahmen um eine Notbremsung zu machen, ggf. ist dafür wieder eine Sitzung des Bundestags nötig – und das könnte zu spät kommen.

Und das alles in einer Situation in der viele Kliniken bereits die weiße Fahne schwenken, weil sie durch den pandemiebedingten Personalausfall, die bereits hohen Patientenzahlen und die nun schon viel zu lange gehende Überlastung stark geschwächt sind. Auch andere Branchen leiden unter den hohen Zahlen.

Das Bild was ich dafür habe: Wir fahren mit einem schwer beladenen LKW eine abschüssige Bergstrecke hinunter. Wir sind wahrscheinlich zu schnell, der Tacho ist ausgefallen, die Scheibe beschlagen, es wird immer nebliger, wir können nur ein paar Meter der Strasse vor uns ahnen, wir ahnen, dass unsere Ladung nicht richtig gesichert ist, der Fahrer ist müde, das Bremspedal haben wir ausgebaut… und wir drücken aufs Gas. Weil es bis jetzt auch immer gut gegangen ist, hoffen wir, dass keine enge Kurve an einem Abgrund auftaucht bis wir im Tal, im Sommer angekommen sind.

Sollte es nun in den nächsten Wochen doch noch zu Problemen mit den Patientenzahlen, den Toten oder dem Personalausfall in allen Betrieben geben, werden wir wieder den Satz hören: “Das konnte ja keiner ahnen.”, oder irgendeine Variation davon.

Doch, konnte man. Aufgrund der o.g. Kette von Unsicherheiten ist es zwar im Moment so schwer wie selten in der Pandemie exakte Kurvenverläufe abzuschätzen (schreibt auch Viola Priesemann), aber wie gleich wir sehen werden, sind diese Kurvenverläufe auch beim Anwenden sehr großer Unsicherheits-Puffer immer noch eher katastrophal. “Flache Kurven” kann ich aus meinem Modell nicht mehr rausholen.

Wie man ein Land mit 83 Millionen Menschen mit Ansage einem solchen Risiko aussetzen kann und sich sogar noch die Notbremsmaßnahmen künstlich schwieriger gemacht hat, das werde ich wohl nie verstehen.

Fünf Szenarien

In meinem Modell habe folgende 5 Szenarien durchgerechnet:

  • Zentrales Szenario: Ich nehme ab 20.3. Verhaltensänderungen an, die etwa so stark sind wir in der ersten März-Hälfte im Vergleich zum Februar (10% mehr Basis-R-Wert als Maß für unser Verhalten/Lockerungen). Ab 4.4. dann nochmals 10% Steigerung des R-Werts (d.h. ca. 10% mehr Kontakte bzw. Ansteckungswahrscheinlichkeit), weil der Wegfall der Maßnahmen nur teilweise ausgenutzt wird.
  • Optimistisches Szenario: Ab 4.4. keine weitere Erhöhung des R-Werts: Bürger behalten Schutzfunktionen trotz Abschaffung der Regelungen bei
  • Pessimistisches Szenario: 10% höherer R-Wert ab 4.4.: dies dürfte noch lange nicht dem völligen Wegfallen aller Maßnahmen entsprechen, wir nehmen also an, dass die Bürger immer noch einen Teil der abgeschafften Regeln aus Vernunft weiterbefolgen.
  • Keine weiteren Lockerungen: Verhalten von Kalenderwoche 14.3.2022 geht weiter. Auch wenn das kein realistisches Szenario ist, zeigt es uns doch, was wir mit den Lockerungen anrichten.

Fallzahlen/Inzidenz

Die Kurven für die Inzidenzen sehen im Modell so aus:

Ich schneide hier ganz bewusst die oberen Ende der Kurven ab. Die Peakwerte sind unrelevant, sehr unsicher und können mit unserem Test/Melde-System auch sowieso nicht erfasst werden. Der qualitative Verlauf reicht hier schon aus um zu sehen: Mein Modell müsste schon immens daneben liegen, wenn das noch gut gehen soll (ich wünsche mir trotzdem, dass es zu hoch liegt).

Warum sinkt ab ca. Mitte April die Inzidenz?

Ab Mitte April sind genügend Menschen durch eine (Teil-) Immunität nach Vorinfektion oder Impfung so viel (teil-) geschützt, sodass ca. die Hälfte der Bevölkerung nicht mehr zu den “susceptibles” gehört, nicht mehr leicht angesteckt wird mit Omikron. Dies in Kombination mit Impfwirkung, Saisonalität und restlichen Maßnahmen reicht im Modell um R-Wert unter 1 zu senken. => Inzidenz sinkt. Ob das nun einige Tage früher oder später passiert, kann man nicht genau sagen.

Diese Grafik aus meinem Modell zeigt als graue Fläche den Anteil der Bevölkerung, der durch Infektion und/oder Impfung (teil-) geschützt ist vor Infektion. Jetzt für den Sommer reicht es aus, wenn das für knapp die halbe Bevölkerung gilt. Im Herbst, wenn die Saisonalität wieder umschlägt, reicht es nicht mehr, und es kommt zur nächsten Welle – außer wir Impfen/Boostern viel über den Sommer oder wir machen wieder Maßnahmen im Herbst. Und das nur mit Omikron BA.2 von heute – eine neue ansteckendere und/oder krank-machendere Variante kann das schnell verschlimmern. Wir können also schonmal feststellen: Das aktuelle IFSG wird schlecht altern und kaum bis Mitte September “halten”. Österreich führt die Maskenpflicht in Innenräumen gerade wieder ein.

Hospitalisierungen

Der Verlauf der COVID-Hospitalisierungen sieht wie folgt aus im Modell:

Hier sieht man, dass im Februar die Klinikeinweisungen keinen “Berg” hatten wie die Fallzahlen. Dies liegt daran, dass im Februar ein viel größerer Anteil der Infektionen in den U20 stattgefunden hat, die kaum ins Krankenhaus müssen. Die Ü60 mit hohem Krankenhaus-Risiko hatten kaum eine Welle.

Das ändert sich aber jetzt: Diese Grafik zeigt den Verlauf der Fallzahlen nach Altersgruppen und wir sehen, dass die Ü60 (dunkelrot gepunktet) im Modell eine heftige Welle haben im April. Und man sieht auch, dass die Hospitalisierungen den Ü60-Infektionen direkt folgt (im November zu Delta-Zeiten reichten noch viel weniger Infektionen für eine Krankenhauswelle).

(Zentrales Szenario)

Warum wütet die Pandemie jetzt mehr in den “Alten” als im Januar/Februar? Weil die Jungen durch die Millionen Infektionen mit BA.1 überproportional besser gegen BA.2 geschützt sind (Virus “weicht auf Alte aus”) und gleichzeitig die Schutz-Wirkung der Booster von vor 3 Monaten gesunken ist.

Mein Modell kann für einen gegebenen Verhaltens-R-Wert recht zuverlässig den Verlauf der Altersgruppen in die Zukunft rechnen, wie diese Grafik zeigt: Ausgehend von den Daten des 31.1.2022 rechnet das Modell eigenständig die Inzidenzen der Altersgruppen für 5 Wochen weiter und liegt meistens bei plus/minus 10% Fehlerrate. Dafür muss das Modell die schwindende Impfwirkung nach Altersgruppe und die Immunität nach BA.1-Infektion erfolgreich mit reinrechnen, sonst würde das so nicht klappen. Daher halte ich für die berechnete Verschiebung der Fallzahlen in die Alten in den nächsten Wochen für valide.

Aus den Fallzahlen der nächsten Wochen und der folgenden Hospitalisierungsrate pro Altersgruppe wird die Anzahl der Hospitalisierungen berechnet. Wie man sieht schließen die Raten des Modells (graue Fläche) nahtlos an die Werte aus den RKI-Zahlen an. Die gestrichelte Gesamt-Rate steigt dann an, weil der Anteil der Alten an den Infektionen immer größer wird.

Diese Raten müssten im März komplett zusammenbrechen (also -80% oder so), nur dann würde aus den zu erwartenden Fallzahlen nicht die oben gezeigte Krankenhauswelle entstehen. Das erscheint mir unwahrscheinlich.

Diese Grafik zeigt die Hospitalisierungen nach Alter (zentrales Szenario, anklicken zum Reinzoomen) im Modell:

ITS-Belegung

Die ITS-Belegung sieht im Modell so aus: Nur im optimistischen Fall haben wir weniger ITS-Belegung als im November, nach oben ist vieles möglich.

Hier geht das nach der gleichen Logik wie bei den Hospitalisierungen: Die Fallzahlen werden mit der altersbezogenen ITS-Rate multipliziert (enthält u.a. die Impfwirkung), die sich so entwickelt:

Dass die Liegezeit der ITS-Patienten unter hoher Belastung deutlich kürzer wird, ist außerdem noch berücksichtigt. Auch hier gilt: Wenn sich die ITS-Belegung deutlich niedriger entwickeln soll, als oben gezeigt, müssten die Quoten im März quasi zusammenbrechen. Ebenfalls: Unwahrscheinlich.

Diese Grafik zeigt, wie gut das Modell ITS-Belegungen berechnen kann aus den Fallzahlen (zentrales Szenario, anklicken zum Reinzoomen):

Personalausfall

Diese Grafik zeigt eine Abschätzung der Anzahl der Menschen in Deutschland, die fehlen (werden) im Alltag. Wir alle haben den Februar schon erlebt mit Personalausfällen, in allen Szenarien liegen wir dann jetzt im April deutlich drüber. Wieviel genau ist erneut nicht berechenbar, aber der qualitative Verlauf dieser Grafik dürfte es schon ganz gut treffen.

Diese Grafik zeigt den Anteil der Notaufnahmen in Deutschland, die bereits Personalausfälle wegen COVID haben: Aktuell 70%, dieser Anteil wird wohl noch steigen.

Todesfälle

Auch wenn die genau Todesfallrate der Omikron-Infektionen noch nicht genau zu bestimmen ist, möchte ich diese Grafik noch zeigen: Man sieht, dass das Modell schon seit Anfang Januar UNTER den Zahlen des RKI liegt, also optimistischer ist. In allen Szenarien liegen wir beim Mehrfachen an Todesopfern pro Woche verglichen mit heute. Wenn die Omikron-Todesfallrate viel niedriger liegen würde, wären die Modellwerte für den Februar schon falsch, d.h. dass meine Sterbequote völlig falsch ist, ist wieder unwahrscheinlich.

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG