Update Modellrechnungen: Was passiert nach dem 2.4.2022?

Kurzzusammenfassung

  • Modellrechnung von vor 10 Tagen lag etwas zu hoch weil Dunkelziffer angestiegen ist und weil Verhaltensänderungen etwas kleiner ausfielen als modelliert.
  • Zentrale Aussage: Modelle können für die nächsten Wochen nur den Fall “ohne Verhaltensänderungen” berechnen, weil niemand weiß, wie sich Verhalten/Lockerungen verändern werden. Das ist jetzt hier ein lustiges Ratespiel. Suchen Sie sich eine Linie aus und wir sprechen uns in 2 Wochen wieder. Viel Glück.
  • Den April werden wir wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit bei allen Schlüsselzahlen auf hohem Niveau verbringen. Entspannung sehe ich frühestens ab Mai.
  • Eine drohende Überlastung des Gesundheitssystems (gemessen an Hospitalisierungen und ITS-Patienten, wenn das denn die richtigen Messgrößen wären) kann man hier nicht herauslesen. Je nach Gesetzesauslegung wird es damit wohl schwierig mit den Hotspots – beim aktuellen Gesetzestext.
  • Ist allen klar, dass sich die aktuelle Rate der Personalausfälle noch bis Mai so weiter hinziehen könnte, ggf. sogar noch ansteigt?

Teil 1: Rückblick

In meinem letzten Modell-Blogartikel vor 10 Tagen schreib ich: “Nur das optimistische Szenario scheint mir noch erträglich zu sein. Um dies zu erreichen dürften alle Bürger in Deutschland die Lockerungen nicht einmal im Ansatz ausnutzen.” Und sowas in der Art hat sich auch entwickelt. Wir folgten exakt dem Szenario “Keine Lockerungen” und nicht dem “zentralen Szenario”.

Wir liegen mit dem Fallzahlen ein Stück besser als meine “Lockerungs”-Szenarien, Inzidenz 1903 statt 2598. Eine Differenz von -600/-27% sieht erstmal spontan nach viel aus, ist aber für einen exponentiellen Prozess mit vielen Unsicherheiten nicht viel und man muss zwei Aspekte berücksichtigen:

Zum einen ist die Dunkelziffer, das sind die noch vom Meldesystem erfassten Infektionen, in den letzten Wochen nochmals deutlich gestiegen, wie man hier im Verlauf der Test-Positiv-Quote sieht:

Quelle: https://www.datawrapper.de/_/gHR40/

Da liegen wir bei sagenhaften 60%, damit liegen wir im Vergleich zu anderen westlichen Staaten auf dem 3. Platz der höchsten Werte aller Zeiten, also seit 2020. Unser Zählsystem ist und bleibt Murks (bitte, endlich Abwasser-Screening einführen, noch ist Zeit bis Herbst!).

Quelle

Die steigende Dunkelziffer führt natürlich dazu, dass die tatsächlich gemeldeten Fallzahlen niedriger sind als die Zahlen in meiner Modellrechnung, die von konstanter Dunkelziffer ausgeht.

Und der zweite Grund scheint mir sein, dass ich die Verhaltensänderungen seit dem 14.3. überschätzt habe. Die Bürger sind vernünftiger geblieben als gedacht. Wobei wir von kleinsten Änderungen sprechen. Wie im letzten Blog-Artikel beschrieben hatte ich den R-Wert um 10% angehoben zum 20.3.:

Dass sich die Bürger auffällig zurückgehalten haben im März kann man in dieser Grafik aus dem Covid-19 Mobility Project sehen – wer hätte damit gerechnet?

Tatsächlich wären am Ende für das Modell am 19.3. nur 2% und nicht 10% Erhöhung des Verhaltens-R-Werts korrekt gewesen, aber von den 8 Prozentpunkten Unterschied gehen noch einige Prozentpunkte aufs Konto der Erhöhung der Dunkelziffer, siehe oben. Wie viele… wissen wir nicht (deswegen heißt das ja auch Dunkelziffer).

Für alle Schlauberger, die jetzt sagen “Das war doch klar, dass das so kommt”: Nein, nix war klar. Ohne die mahnenden Worte der gesamten Riege der Modellierer wäre es auch nicht so gekommen.

Jetzt würde man eigentlich auf die Hospitalisierungsrate schauen, um zu sehen, wie die sich verändert hat, aber blöderweise hat sich die nach dem Übergang zu Omikron noch nicht wieder eingeschwungen, sinkt immer noch ab, sodass wir aus den Hospitalisierungen nicht herauslesen können, wie sich die Dunkelziffer entwickelt hat. Die Quoten sehen aktuell so aus:

Ich nehme an dass das daran liegt, dass der Anteil der Hospitalisierungen die “mit” Covid im Krankenhaus als “Covid”-Fall gezählt werden (=Zähler), obwohl sie auch wegen etwas anderes kommen, relativ langsamer steigt während gleichzeitig die Zahl der Fälle (=Nenner) relativ schneller steigt, weil die Dunkelziffer der Leicht-Symptomatischen (die sich weniger oft testen lassen) langsamer ansteigt als die Patientenzahl, sodass wir also ab jetzt auch diese Betrachtungen in die Tonne treten können. Oder so ähnlich. Diesen Effekt müßte man jetzt in die Modellrechnung mit einbauen.

Wir haben erstmal durch die langanhaltenden hohen Fallzahlen auch noch die zweite Ebene unseres Mess-Systems ruiniert.

Wollen wir hoffen, dass nicht irgendwann ein (noch ansteckenderes?) Virus auftaucht, das so krank (oder kränker?) macht als Delta, dann werden wir das am Anfang ggf. gar nicht merken bis die Intensivstationen wieder ohne Vorwarnung voll laufen (Abwasser-Screening… lalalala….).

Teil 2: Ausblick

Letzte Woche schrieb ich vom “fast unberechenbaren Risiko” und wie wir in Teil 1 gesehen haben ist es seit dem nicht besser geworden. Dementsprechend ungewiss ist der Ausblick auf den 2.4., wenn alle Maßnahmen fallen (oder nicht?).

Welche Wirkung wird der 2.4. auf das Verhalten haben? Meine Modellrechnungen schauen auf ein Weiterführen des aktuellen Verhaltens (entspricht +0% R-Wert-Veränderung) oder +5%, +10%, oder +15% mehr Verhaltens-R-Wert (d.h. 5-15% mehr Kontakte/Ansteckungen pro Infiziertem). Ob dieser Wert noch höher gehen kann? Keine Ahnung, ich hoffe sehr dass nicht. Würden wir noch viel höhere Inzidenzen messen können? Unwahrscheinlich. Wenn es ab dem 2.4. überall zum Dauerparty-Zustand kommt reichen die +15% sicher nicht.

Also meine zentrale Aussage: Modelle können für die nächsten Wochen nur den Fall “ohne Verhaltensänderungen” berechnen, weil niemand weiß, wie sich Verhalten/Lockerungen verändern werden. Das ist jetzt hier ein lustiges Ratespiel. Suchen Sie sich eine Linie aus und wir sprechen uns in 2 Wochen wieder. Viel Glück.

Besser als “ohne Verhaltensänderungen” wird auch ziemlich sicher nicht kommen, den dafür nötigen rechten Winkel bekommen wir in die Inzidenzkurve nur rein, wenn wir quasi ganz aufhören zu zählen (also kommt, vielleicht geht bei der Positivrate ja noch was, Platz 1 ist schon in Sichtweite).

Nach dieser langen Vorrede hier also nun die Modelldarstellung bis Mitte Mai.

Der Bereich der Spitzen-Inzidenz läge im April zwischen 2.000 und 3.000, frühestens ab Mai liegt die Inzidenz unter 1.000. Außer im +15%-Fall blieben die Intensivstationen von einer erheblichen Welle verschont, eine Erleichterung erfolgt aber auch hier nicht vor Mai. Das gleiche gilt für die Hospitalisierungen, das bleibt länger auf hohem Niveau, einfacher wird es ab Mai. Auch bei den Arbeitsausfällen bleibt es noch bis Mai auf hohem Niveau.

Dass meine Kurven zum pot. Arbeitsausfall durchaus reale Relevanz haben zeigt dieser Vergleich mit den Daten von BKK Verband:

Quelle: https://twitter.com/dpaessler/status/1508042646941577225

Fazit

Eine Überlastung des Gesundheitssystems kann man – wenn man diese Überlastung nun mal nur mit den Hospitalisierungen und ITS-Patienten messen wollte – hier nicht herauslesen. Je nach Gesetzesauslegung wird es damit wohl schwierig mit den Hotspots – beim aktuellen Gesetzestext.

Aber ist uns allen klar, dass sich die aktuelle Rate der Personalausfälle noch bis Mai so weiter hinzieht, ggf. sogar noch ansteigt? Ist das besser “für die Wirtschaft”, und damit für uns alle?

Diese Ausfälle haben dann eben am Ende doch eine Auswirkung auf der Gesundheitssystem, wie man in dieser Kurve mit dem täglichen Personalausfall der zentralen Notaufnahmen sehen kann, da gibt es bisher nur eine Richtung – nach oben.

Ich werde die Maske zumindest erstmal auflassen.

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG