Modellrechnung: Ein erster Blick auf die nächsten 6 Wochen der BA.4/5-Welle

Auch wenn die Datenlage zur Zeit nicht gerade optimal ist (Datenlöcher durch Feiertage in den letzten 2 Wochen, Varianten-Sequenzierungsdaten werden z.T. täglich nachkorrigiert und ganz allgemein durch ein vielfach kaputt-sabotiertes Test&Zählsystem) hier der Versuch einen ersten Blick auf die BA.4/5-Welle in den nächsten 6 Wochen zu werfen.

Aus den aktuellen Varianten-Daten kann man ableiten, dass BA.4/5 in der gerade laufenden Woche die dominante Virusvariante wird, d.h. dass ab jetzt mehr als die Hälfte der Infektionen durch BA.4 oder BA.5 verursacht werden (siehe meine Berechnung oder Berechnung von RV_Enigma). Die Tatsache, dass diese Variante seit Wochen konstant anwächst während die vorher dominante Variante BA.2 sinkt, sagt uns, dass BA.4/5 mehr ansteckend sind und ab der Dominanzübernahme der Inzidenzwert wieder steigen wird.

In der Presse gab es dazu oft verharmlosende Formulierungen zu lesen wie “die neuen Varianten wachsen, aber auf nur kleinem Niveau” zeigt, das hier jemand das exponentielle Wachstum nicht versteht. Solange es Varianten gibt, die konstant über viele Woche wachsen (wir beobachten BA.5 nun schon seit Anfang April) ist das IMMER ein Alarmzeichen, weil so eine Welle nicht einfach wieder aufhört zu wachsen. Und dann ist man plötzlich von einer Welle überrascht, die “keiner hat kommen sehen”, “das konnte ja keiner ahnen”, usw. Diese Welle kam ebensowenig überraschend, wie die Alpha-Welle, die Delta-Welle, die BA.1-Welle und die BA.2-Welle.

Aber egal, jetzt ist sie also da, die BA.4/5 Welle. Wie geht es denn nun weiter? Das ist gar nicht so einfach zu sagen, denn abgesehen von der oben schon erwähnten, saumässigen Datenlage ist es sehr schwer bis unmöglich die Reaktion der Bevölkerung auf diese neue Welle einzuschätzen: Nachdem über die letzten Wochen fahrlässigerweise fast alle Regeln fallen gelassen wurden und den Bürgern signalisiert wurde “es ist vorbei” müßte jetzt wieder zurückgedreht werden bevor die Welle und die Folgen riesig werden. Wünsche den Politikern viel Spaß, diese Rolle rückwärts den Bürgern zu erklären.

Also für das Modellieren der Fallzahlen ist wichtig: Wann werden die Bürger ihr Verhalten anpassen und wieder vorsichtiger werden und um wieviel wird dies den R-Wert senken? Bis in den Juli hinein ist wohl kaum mit staatlichen Eingriffen zu rechnen, also wenn wir diese Welle ausbremsen wollen (?), dann müssen das erstmal die Bürger machen.

In etwa 1-2 Wochen werden wir an der weiteren Entwicklung der Fallzahlen ablesen können, welches der folgenden Szenarien der tatsächlichen Entwicklung am nächsten kommt.

Für meine Modellrechnung habe ich 4 Szenarien entworfen:

  • Zentrales Szenario: Dieses Szenario ist der aus meiner aktuellen Sicht wahrscheinlichste Verlauf. Ausgehend vom aktuellen Verhalten in der vergangenen Woche, das ich bis in den Juli weiterlaufen lasse, rechne ich ab Juli damit, dass die Bürger immer mehr bremsen, dabei wird bis Anfang August ein ähnliches Verhalten wie im April 2022 angenommen und ab Ende Juni werden zusätzlich Bremseffekte der Sommerferien berücksichtigt.
  • Optimistisches Szenario: Hier senke ich die Verhaltens-R-Werte des zentralen Szenarios durchgehend um 5% ab.
  • Pessimistisches Szenario: Hier hebe ich die Verhaltens-R-Werte des zentralen Szenarios durchgehend um 5% an.
  • Szenario “Bremsen ab 1.7.”: Ab dem 1.7. wird erheblich gebremst um R-15%, z.B. durch eine Einführung einer allgemeinen Maskenpflicht in Innenräumen.

Wenn ich das nun in meinem Modell laufen lasse, sieht das so aus:

Im zentralen Szenario (orange) steigt die Inzidenz bis August auf über 1.000 an.

Die blaue, gepunktete Linie zeigt, welche Inzidenz wir jeweils messen würden, wenn wir noch das Test&Zählsystem vom März 2022 hätten (Herleitung).

Das pessimistische Szenario (rot) steigt wesentlich steiler an, ich schneide hier bewusst die Grafik oben ab, weil die Datenausgangslage keine genauere Projektion möglich macht.

Im optimistischen Szenario (grün) verdoppelt sich die Inzidenz nur bis August und dann sieht man eine Delle, die durch die Bremseffekte der Sommerferien entsteht.

Bei Szenario “Bremsen ab 1.7.” ist schön zu sehen, dass wir die Welle vorerst komplett vermeiden könnten (bzw. bis Herbst zumindest verzögern könnten), wenn wir einfache Maßnahmen wie die Maskenpflicht wieder einführen würden.

Auf welches Szenario wir zusteuern können wir nächste bzw. übernächste Woche anhand der folgenden Tabelle ablesen:

SzenarioInzidenz am 13.6.2022Inzidenz am 20.6.2022
Zentrales Szenario (8.6.)290337
Optimistisch R-5% (8.6.)256261
Pessimistisch R+5% (8.6.)329429

In meinem Modell kann ich aus diesen Fallzahlen-Szenarien dann auch noch die Patientenzahlen und Verstorbenen-Zahlen hochrechnen, unter der Annahme, dass die Quoten für Hospitalisierung, ITS- und Tod vorerst gleich bleiben. Ich habe bisher keine Daten gesehen, die dahingehend eine Verbesserung erwarten lassen, aber das können wir wahrscheinlich erst in ein paar Wochen abschliessend beurteilen (das war bei Omikron/BA.1 auch längere Zeit unklar).

Wir sehen in den Grafiken, dass diese Welle – zumindest mit Zeithorizont August – nicht zwingend in eine Überlastung der Gesundheitssysteme reinlaufen muss. Aber die Long-Covid Patienten, die sich aus Millionen von Infektionen ergeben werden (bis Mitte August würden im zentralen Szenario ca. 8 Mio Menschen infiziert werden), wären für mich Grund genug zu versuchen näher am optimistischen Szenario zu bleiben indem man etwas tut.

Natürlich kommt jetzt die Frage auf: Wie wird es denn ab August weitergehen? Ich denke, dass man dazu tatsächlich noch keine Aussage machen kann. Es wäre als ein Extremfall möglich, dass diese neue Welle jetzt ungebremst bis September in eine Sättigung reinrauscht (weil es keine Gegenmaßnahmen gibt) und sich dann selbst bremst. Oder es wäre möglich, dass – wie oben gezeigt – die Bürger durch ihr Verhalten plus einige staatliche Maßnahmen den Ausbruch erstmal stark bremsen und sich die Welle dann erst im Herbst bei weiter steigender Saisonalität vollständig entwickelt. Oder alles dazwischen mit Unterwellen ist auch noch möglich, im schlimmsten Fall mit einer Variante, die noch mehr krank/tot macht.

Die Politik scheint auf einen Verlauf zu hoffen, der wie mein optimistisches Szenario aussieht (da reden alle von der “Herbstwelle”).

Ein Szenario, bei dem sich diese Welle in ein paar Wochen wie von alleine in Wohlgefallen auflöst und die Inzidenzen wieder sinken, das halte ich aus mathematischer Sicht beim Blick in die Modellberechnungen für ziemlich ausgeschlossen: Die erhöhten R-Werte der neuen Variante, die Saisonalität und die schwindende Immunität werden spätestens im Herbst wieder voll auf der Matte stehen.

Was ab August passieren wird, kann man noch nicht sagen, aber genügend schwierige Szenarien sind leider denkbar. Es wäre gut sich darauf jetzt vorzubereiten: Masken, Luftfilter/Lüftungssysteme, Konzepte zur Kontaktreduzierung, usw. Ganz so wie der ExpertInnenrat der Bundesregierung das am Mittwoch in seiner Stellungnahme dargelegt hat.

“Die Pandemie ist definitiv nicht vorbei, es macht also Sinn, sich auf den Herbst vorzubereiten”

Heyo Kroemer, der Vorsitzende des ExpertInnenrats der Bundesregierung, am 8.6.2022 in der BPK

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG