Ab welcher Inzidenz hört Kontaktverfolgung auf zu wirken? (Auswertung der Corona-Quarantäne-Daten von Risklayer)

Mit der behördlichen Kontaktverfolgung von positiven Corona-Fällen steht uns ein sehr wirksames Werkzeug zum Eingrenzen der Pandemie zur Verfügung. Doch diese Strategie hat klare Grenzen: bei steigender Inzidenz kommen die Gesundheitsämter irgendwann nicht mehr dazu, alle Kontakte zu ermitteln, zu kontaktieren und in Quarantäne zu schicken. Denn diese Arbeit lässt sich nicht beliebig skalieren.

Anhand von täglichen Quarantäne-Daten seit Juni 2020 von 130 Landkreisen versuche ich im folgenden Artikel eine Eingrenzung der Inzidenzgrenze für Deutschland zu machen.

Kontaktverfolgung in einer Pandemie

Die Kontaktverfolgung für Personen mit positiven Corona-Testergebnis (=”Fall”) durch die Behörden ist eines der effektivsten Werkzeuge um die Pandemie im Griff zu behalten. Sobald man eine infizierte Person gefunden hat versucht man deren Kontaktpersonen der letzten Tage zu ermitteln, die angesteckt worden sein könnten, und steckt diese für 2 Wochen in Quarantäne mit dem Ziel die Kette der Ansteckungen zu unterbrechen. Das wird auch TTI genannt für “Test, Trace, Isolate”.

In einem NoCovid-Konzept, wie es z.B. in Australien umgesetzt wird, wird jede Infektion so lange verfolgt, bis man weiß wo sie herkommt. Und wenn das nicht gelingt, geht auch mal eine Millionenstadt für 5 Tage in einen Lockdown, um eine unklare Weiterverteilung des Virus zu stoppen.

Dieses TTI-Konzept funktioniert aber nur, wenn die Anzahl der Fälle nicht explodiert, die Gesundheitsämter ausreichend besetzt/ausgestattet sind, und die angewendeten Strategien wirkungsvoll sind. Wenn bei steigender Inzidenz mehr und mehr Infektionen zu verfolgen sind, kommen die Gesundheitsämter irgendwann nicht mehr nach, auch als “Kontrollverlust” bezeichnet – d.h. immer weniger Infektionsketten noch erfolgreich unterbrochen werden.

Wo liegt die Inzidenz-Grenze, aber der TTI nicht mehr klappt?

Die vom RKI empfohlenen Inzidenz-Grenzen von 10, 35 und 50 (die auch im neuesten Stufenplan des RKI vom 1.6. noch verwendet werden) für das stufenweise Aktivieren von Einschränkungen ist u.a. durch den zu erwarteten Kontrollverlust mitbestimmt. Die Politik hat sich leider für ganz andere Grenzen entschieden (50, 100, 165, usw.).

Physiker und Epidemiologe Matthias Linden schreibt dazu:

Im Herbst war mir aufgefallen, dass die Zahl der Personen in Quarantäne pro Inzidenz-Wert stark gefallen war zwischen September und November. Es wurden nur noch die Hälfte der Kontakte pro positivem Fall ermittelt wie vorher.

Bisher gab es meines Wissens keine öffentlich verfügbare deutschlandweite Datenquelle über die Anzahl der Personen in Quarantäne, sodass wir auf crowd-sourcing Daten zurückgreifen müssen.

Unter dem Twitter-Handle @risklayer veröffentlicht ein Team von ehrenamtlichen Helfern um den Risikoforscher James Daniell täglich die wahrscheinlich besten Corona-Fallzahlen für Deutschland. Oft sind diese Daten aktueller als die des RKI. Viele Tageszeitungen verwenden diese Daten und auch die meisten meiner Auswertungen in meinem Blog basieren auf diesen Daten.

Neben den Fallzahlen sammelt das Team auch die verfügbaren Quarantäne-Zahlen von den Gesundheitsämtern ein. Aus diesem Datenschatz haben wir nun ca. 130 Landkreis-Quarantänezahl-Datensätze für jeden Tag zwischen 6.6.2020 und 19.4.2021 extrahiert:

Soweit mir bekannt ist, wäre das der umfangreichste öffentlich verfügbare Datensatz zum Thema Corona-Quarantäne.

Können wir mit diesem Datensatz herausfinden, wann der Kontrollverlust tatsächlich eintritt?

Der Höchstwert liegt hier bei ca. 220.000 Personen in Quarantäne von 130 Landkreisen, simpel hochgerechnet entspricht das ca. 680.000 für die 401 Landkreise Deutschlands. Das sind enorme Zahlen!

Wenn man – als Maßzahl für das Funktionieren der Kontaktverfolgung – nun die Anzahl der Personen in Quarantäne geteilt durch die Fallzahl plottet, kommt die folgende Kurve heraus:

Und pro Bundesland (die Einzelkurven bitte anklicken zum Vergrößern):

Anm. Für die fehlenden Bundesländer gibt es keine Daten.

Auf den ersten Blick fällt auf, dass bis Oktober 2020 die durchschnittliche Zahl der ermittelten Kontakte deutlich höher liegt (10 oder mehr) als nach Oktober 2020 (klar unter 10).

Was ist im Oktober passiert?

Kontaktsperren oder ein Lockdown könnte erklären, dass es weniger Kontakte gab. Denn wenn die Menschen zu Hause bleiben, Veranstaltungen verboten sind, usw. gehen natürlich auch die Anzahl der pro Fall zu ermittelnden Kontakte runter. Aber: Soweit ich das vorerst recherchieren konnte gab es zwischen September und Oktober keine maßgeblichen Veränderung bei den Regeln, die das erklären könnten. Erst mit dem “Lockdown Light” (startete Anfang November, 4 Wochen später) änderten sich die Regeln. Interessanterweise gibt es aber dann im November kein weiteres Absinken der Zahlen.

Oder gab es Ende September/Anfang Oktober Änderungen an den Vorgaben für die Kontaktverfolgung, die das Absinken der Kontakte erklären?

Oder liegt es halt eben doch an der Überlastung, dass nicht mehr bei allen Fällen alle Kontakte ermittelt werden können? Fakt ist: Genau im Verlauf des Oktober ist die Gesamtinzidenz in Deutschland von ca. 30 auf über 100 angestiegen – und hat damit die o.g. Grenzen der RKI überstiegen.

Pro-Landkreis-Betrachtung

Um da etwas genauer anzuschauen, zoomen wir in die Daten und gehen auf wochenweise Betrachtung der Landkreise. Die folgenden Grafiken zeigen für jeden Landkreis mit verfügbaren Quarantäne-Daten pro Kalenderwoche die Quarantänezahlen pro Fall (y-Achse) aufgetragen über der Inzidenz (x-Achse), beide Achsen logarithmisch. Jeder Punkt entspricht einem Landkreis in einer Kalenderwoche.

Wir sehen, dass oberhalb einer Inzidenz von etwa 25 nur noch in Ausnahmefällen pro Woche im Schnitt mehr als 10 Kontakte pro Fall ermittelt wurden, während unterhalb von dieser Grenze in vielen Wochen auch viel mehr Kontakte ermittelt wurden.

Als Ausnahmen fallen die Landkreise Weilheim-Schongau, Potsdam, Cottbus, Hamm, Steinburg, Nordfriesland, Nienburg, Salzgitter, Osterholz, Nordwestmecklenburg und der Saale-Holzland-Kreis auf: Sie haben auch jenseits von Inzidenz 25 in einigen Wochen mehr als 10 Kontakte im Durchschnitt pro Fall ermittelt. Ob das nun daran lag, dass man schneller verfolgbare Ausbrüche hatte, oder weil dort das Kontakt-Tracing einfach leistungsfähiger war/ist, wissen wir nicht, ich tendiere für die meisten Wochen zur letzteren Theorie.

Sachsen fällt auf, weil über Inzidenz 50 i.d.R. nicht mal wenigstens im Schnitt 5 Kontakte pro Fall ermittelt wurden, der niedrigste Wert aller Bundesländer.

Was fast überall auffällt: Es gibt eine Clusterbildung der Wochenwerte, unterhalb von ca. Inzidenz 25 liegt die “Wolke” höher und breiter verteilt, oberhalb von Inzidenz 25 sieht man kaum Werte über 5-10 Quarantäne-Personen pro Fall. Dazwischen gibt es eine regelrechte Lücke.

Auffällig ist auch der SK Magdeburg, der es geschafft hat auf einer doppelt-logarithmischen Skala eine exakt gerade Linie zu erzeugen: Können das tatsächlich echte Werte sein? Sind die Quarantäne-Zahlen am Ende mit einer Formel aus den Fallzahlen berechnet?

Landkreise mit besserer Kontaktverfolgung haben weniger Inzidenz und Todesfälle

Die folgende Grafik zeigt die mittlere Zahl der Personen in Quarantäne zwischen Juni 2020 und April 2021 aufgetragen für jeden der ca. 130 Landkreise über der Gesamt-Fallzahl pro 100.000 Einwohner. Die Größe der Kreise stellt die Anzahl der Toten pro Einwohner dar:

Hier kann man drei Dinge sehen:

  • Landkreise mit höheren Quarantäne-Raten haben tendenziell niedrigere Fallzahlen pro Einwohner (links oben).
  • Landkreise mit niedrigeren Quarantäne-Raten haben tendenziell mehr Todesfälle pro Einwohner (rechts unten). Auch hier fällt Sachsen wieder auf.
  • Und: Es gibt eine große Vielfalt mit vielen Ausreißern.

Beides Effekte die wir so erwartet hätten und die uns nochmal bestätigen, dass die Messgröße “Quarantäne pro Fall” zumindest geeignet scheint für diese Betrachtungen.

Erstes Resümee

Wir kommen ja hier nun aus der reinen Daten-Analyse-Perspektive. Mir liegen natürlich nicht von den Bundesländern oder gar einzelnen Landkreisen/Gesundheitsämtern die Informationen vor, in welchen Zeitphasen und nach welchen Strategien die Kontaktverfolgung ausgeführt wurde und wann es beim Personal zu Überlastungen kam, sodass man nicht mehr hinterher kam (“Kontrollverlust”).

Was man aber sehen kann: Ab Inzidenz 25 “passiert” etwas, bei uns also ab der ersten Oktober Woche 2020. Über 25 gibt es nur noch wenige Gesundheitsämter, die zumindest noch in einigen Kalenderwochen erfolgreiche Kontaktverfolgung umsetzen konnten.

Vergleich mit weiteren Indizien für Kontrollverlust/Überlastung der Ämter

Es gibt noch zwei weitere Datenquellen, die auch den Oktober als Zeitpunkt des Kontrollverlusts zeigen. Zum einen geht man ab einer Test-Positiv-Rate von 2-5% von einem Kontrollverlust aus: über den Punkt gingen wir zwischen 11.10.2020 und 25.10.2020.

Dann kann man sich anschauen, bei wie vielen Fällen erfolgreich ermittelt wurde, wo die Ansteckung stattfand. Es müsste also eine Korrelation zwischen der Auslastung der Gesundheitsämter und deren Fähigkeit geben, die Orte der Ansteckung erfolgreich zu ermitteln. Vom RKI gibt es Daten dazu, und auch hier sieht man, dass ab Oktober die Aufschlüsselung der Infektionsorte viel unspezifischer wird (abgesehen von Alten/Pflege-Heimen in der zweiten Welle). Korrelierend mit einem Anstieg oder Abstieg der Fallzahlen nimmt der prozentuale Anteil derer, zu denen es ausreichend Daten gibt, ab bzw. zu (Grafik von Christoph Montag). Auch dies ist ein Hinweis, dass man nicht mehr “hinterkam”.

Es bleiben viele Fragen

Was haben die erfolgreichen Landkreise anders gemacht? Das müsste man nun “pro Landkreis” untersuchen und mit den Informationen vor Ort zusammenbringen, um besser zu verstehen, was gut funktioniert – und was nicht.

Wurden die deutschlandweiten Vorgaben für die Kontaktverfolgung Anfang Oktober oder auch irgendwann anders verändert und wenn ja, wie? Warum sieht man die bundesweite Einführung der DEMIS Plattform in den Gesundheitsämtern nicht in den Daten?

Sollten wir die Wirkung von Schnelltests im Verlauf deutlicher sehen, d.h. das Absinken von Quarantänezahl pro Fall ab Jahresbeginn 2021?

Warum machen wir nicht generell noch viel besseres TTI, so wie z.B. in Australien, wo pro Fall zig Kontakte ermittelt werden, bis man die Quelle jeder Infektion gefunden hat (naja, die machen ja auch NoCovid – Seufz).

Und natürlich: Was passiert da mit der Quarantäne in Magdeburg?

Diese Analysen übersteigen mein persönliches Zeitbudget fürs Corona-Daten-Schubsen, aber mit dem unten gezeigten Zugang zu den Daten wäre dies nun möglich. Auf Anfrage können wir auch die Quellen als Datensätze zur Verfügung stellen. Wir freuen uns über Anfragen!

Warum sind Antworten auf diese Fragen wichtig?

Wir sind jetzt in vielen Landkreisen inzwischen wieder bei Inzidenz unter 50, wir kommen also wieder in den Bereich, in dem die Kontaktverfolgung funktioniert. Und wir wollen alle, dass so bleibt, damit die Fallzahlen nicht wieder hochgehen. Dafür müssen wir wissen, was im Oktober schief gegangen ist (mal abgesehen davon, dass wir auf den im September/Oktober ständig über 1 liegen R-Wert nicht reagiert haben, den Anstieg abgewartet haben, und dann den unsäglichen Lockdown-Light gemacht haben, der 7 Monate massive Einschränkungen eingeläutet hat). Keiner will da wieder hin!

Ich freue mich über Kommentare und Feedback, insbesondere auf Hinweise zum Quarantäne-Verlauf einzelner Landkreise. Am besten per Twitter an @dpaessler.

Zugang zu den Daten

Hier gibt es die Möglichkeit, in die Daten interaktiv mit Google Data Studio hineinzuschauen. Einen öffentlichen Datensatz als CSV/Datenbank wird es später geben.

Für die Ausgabe der Daten muss man oben ein Bundesland auswählen.

Interaktive Grafik starten

Danke an James Daniell, Christoph Montag, Marcus Ewald, Viola, Olaf, und die anderen Probeleser für das Feedback auf die ersten Artikel-Versionen. Danke an Stefan Neefischer, Maria und Rauf für die Datenarbeit.

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG