Alpha könnten wir mit Impfen in den Griff bekommen. Aber Delta wohl nicht? (Modellrechnungen)

Auch wenn im Moment der weitere Verlauf sehr schwer abzuschätzen ist: Für die nächsten 4-6 Wochen sieht es aus der Sicht meiner Modelle ganz gut aus für uns in Deutschland. Die täglichen Zahlen fielen zuletzt um 25-30% zum gleichen Tag der Vorwoche. Mit der Öffnung der Schulen und den vielen anderen Lockerungen erwarte ich aber, dass der Abwärtstrend sich ab nächste Woche eher verlangsamen wird.

Wenn nichts neues passieren würde, könnten im Juli die Inzidenz um 10 liegen und könnten bis zu Ende des Jahres auf nahe null sinken. Damit hätten wir uns tatsächlich “aus dem Problem herausgeimpft”. Aber…

Ich habe eine Bitte an alle Modellrechnungs-Agnostiker, die sich mit dem Hin&Her-Denken zwischen verschiedenen positiven und negativen aber eben möglichen Szenarien schwer tun: Bitte nicht weiterlesen, bitte lest etwas anderes, und insbesondere erspart uns Eure unnötigen Kommentare. Danke!

Aber…

Abgesehen von diesem fast schon rosigen Szenario gibt es eben auch ein paar weniger gute Szenarien, die ebenfalls eintreten könnten.

BeschreibungIndiz, dass wir diesen Weg gehen
Basis-Szenario: “Rosig”
Wie oben gezeigt schaffen wir es die Inzidenz niedrig zu halten und im Herbst läuft sich das ganze aus.
R-Wert bleibt unter 1
“Zu viel zu früh”
Wir werden zu unvorsichtig und lockern zu viel und/oder zu früh, und es kommt wieder zu einem Inzidenzwachstum.
R-Wert liegt über 1
“Alles auf”
Wir lassen alle Einschränkungen fallen, weil wir denken, wir hätten genug geimpft (Das hat MP Ramelow ernsthaft vorgeschlagen)
politische Entscheidung
“Delta kommt”
Die erheblich ansteckendere “indische Mutation” B.1.617.2 wird in Deutschland die dominante Variante (wie z.B. in UK und USA)
Anteil von Delta an den Neuinfektionen steigt stetig

Für jede dieser 4 Szenarien können wir nun Modellrechnungen machen mit unterschiedlichen Ausgangswerten. Als machen wir uns auf:

Ausgangswerte und Grundannahmen

Die folgenden Szenarien habe ich mit Version 10 meines Pandemie-Berechnungs-Modells berechnet, das Altersgruppen-basiert den Pandemie-verlauf wochenweise berechnet und dabei aktuellen wissenschaftliche Erkenntnisse und den Fortschritt der Impfungen berücksichtigt. In der ausführlichen Dokumentation sind Berechnungsmethoden und Annahmen beschrieben.

Je nachdem wie sich die Situation der Neuinfektionen weiter entwickelt, wird die Bevölkerung und am Ende auch die Politik mit Veränderungen von Verhalten und/oder Lockerungs/Einschränkungsmaßnahmen reagieren, d.h. der R-Wert verändert sich mit dem Verlauf der Pandemie. Der tatsächliche Verlauf von Verschärfungen und Lockerungen ist aktuell nur schwer vorherzusagen, da die Bundesnotbremse als Regelmechanismus Ende Juni ersatzlos ausläuft. Keiner weiß, was danach kommt, insbesondere brauchen wir wohl vor der Bundestagswahl nicht mehr mit größeren Eingriffen der Bundesregierung rechnen.

Also habe ich einen sehr simplen “künstliche-Politik”-Regelmechanismus ins Modell eingebaut, der wöchentlich auf Basis der höchsten Altersgruppen-Inzidenz der Vorwoche reagiert (weil es mit hoher Impfrate keinen Sinn mehr macht auf die Gesamtinzidenz zu schauen) und damit den Ausgangs-R-Wert der Berechnung anpasst. Das ist natürlich nur eine einfache Modellierung, aber es entstehen zumindest keine sinnlosen Extrembeispiele.

Bei allen folgenden Modellrechnungen steigert das Modell die Lockerungen ab Juni bis ca. im Juli der Maximalwert der Öffnungen erreicht ist. Dann versucht das Modell die Inzidenz in allen Altersgruppen unter 300 zu halten, was natürlich im Sommer/Herbst insbesondere die Altersgruppen der Kinder und Jugendlichen betrifft, die noch gar nicht geimpft sind oder nur teilweise. Der Wert 300 ist ein von mir gewählter Grenzwert, den wir auch bisher in allen Altersgruppen noch kaum überschritten haben:

Bei den hier verwendeten R-Werten handelt es sich dabei um den R-Wert RWild, d.h. der R-Wert der bei der Wildvariante (1./2. Welle vor Januar 2021) entstehen würde aus dem Verhalten (nicht verwechseln mit den vom RKI aktuell vermeldeten R-Werten!). Aus diesem R-Wert werden für jede Woche die R-Werte der aktuell wirksamen Mutationen berechnet.

Zum Einordnen: Im Oktober 2020 lag dieser RWild bei ca. 1,3, im März 2021 bei 1,1, im Februar 2020 bei 1,0. Ein RWild von 2,x entspricht praktisch dem Fallenlassen aller Maßnahmen (R0 des Wildtyps liegt bei 2,5-3).

Szenarien “Rosig” und “Zu viel zu früh”

Fangen wir mal mit den positiven Varianten an: Ich habe für verschiedene Öffnungs-Strategien das Modell rechnen lassen (noch ohne Delta-Variante). Welchen R-Wert wir dann tatsächlich haben werden, weiß ich nicht. Mein Bauchgefühl tippt auf 1,8 oder eher mehr als weniger. Auf jeden Fall sieht man in der folgenden Grafik, dass nur 0,1 mehr oder weniger beim R-Wert eine Menge Unterschied machen, und ich glaube keiner weiß, auf welchen Wert wir uns gerade zubewegen. Das ist ein grosses landesweites Experiment. Mit Ideen wie der Abschaffung der Maskenpflicht, am Ende noch in den Schulen, schieben wir uns aber sicherlich deutlich nach oben und würden im Herbst die Zeche dafür bezahlen.

Ab einem maximalen R-Wert von 1,8 müssten wir laut dieser Modellrechnung auch schon nur für die Alpha-Mutation mit Einschränkungen reagieren, um in allen Bevölkerungsgruppen (insb. die z.T. noch ungeimpften U16) die Inzidenzen unter 300-500 halten zu können.

Wenn man sich für den Grenzfall von R=maximal 1,8, wo erste Verschärfungen (R-0,3) nötig wären, genauer anschaut, würde sich folgendes Bild ergeben (Anklicken zum Vergrößern):

Im November würde in dieser Modellrechnung die Inzidenz bei den 0-4-Jährigen über 300 liegen, die der Schulkinder 6-10 Jahre bei 200. Sowohl die Intensivstationen wie die Bestatter bekommen davon aber nichts mit.

Wenn wir diese Variante erreichen würden, hätten wir uns – zumindest vorerst – erfolgreich aus der Pandemie herausgeimpft und würden ab ca. August ein fast einschränkungsfreies Leben haben.

Was uns zu den nicht so rosigen Szenarien bringt.

Szenario “Alles auf”

Es gibt bereits Politiker, die den völligen Wegfall aller Einschränkungen für den Herbst in die Diskussion tragen. Zitat: “Er wisse aber auch, dass sich 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung nicht impfen lassen werden. “Die müssen das Risiko dann selbst tragen und verantworten”, sagte Ramelow.”. Dass ein großer Teil der Ungeimpften im Herbst Kinder/Jugendliche sind, für die es noch keinen Impfstoff gibt bzw. die noch nicht voll geschützt sind bis dahin, wird nicht berücksichtigt?

Dieser Vorschlag zeigt aus meiner Sicht ein Nichtverstehen der Zusammenhänge der Pandemie. Anfang September könnten sich noch 30 Millionen Menschen anstecken mit Covid-19, selbst wenn wir super-fleißig weiterimpfen. Auch Ende November sind es noch 25 Mio. (Herleitung).

Daher würde es also – wenn man alle Einschränkungen einfach abschafft – zu einer raschen und intensiven Durchseuchung dieser 25-30 Millionen Menschen kommen (Prof. Drosten sagt ganz klar: “Wer sich nicht impfen lässt, wird sich unweigerlich infizieren.”).

Mein Modell ist für diesen Fall sicherlich nicht sehr genau was die Ausmaße und den Zeitverlauf der Welle angeht, aber das folgende Bild zeigt zumindest eine Richtung, und für die braucht es auch eigentlich keine Modellrechnung: Es würde genau das passieren, was wir in der 1./2./3. Welle erfolgreich vermieden haben: Überschwemmung des Gesundheitssystems mit tausenden von ITS-Patienten und 80.000 zusätzlichen Toten – trotz millionfacher Impfung!

Keiner kann das ernsthaft wollen. Hoffentlich bleibt das nur politische Fiktion.

Was uns zu zurück die Realität bringt, und damit leider zu Delta.

Szenario “Delta kommt”

Die Delta Variante (“indische Mutation” B.1.617.2) hat innerhalb kürzester Zeit in England das komplette Infektionsgeschehen übernommen und zu stark steigenden Fallzahlen geführt. Jetzt wird überlegt, ob die geplanten Lockerungen zum 21.6. verschoben werden müssen (Die Antwort ist “ja”). Auch in den USA wird Delta bereits in 1-2 Wochen die dominierende Corona-Virus-Variante sein. Was sie in Indien angestellt hat, haben ja alle in der Zeitung gelesen.

Das Problem ist, dass Delta sehr viel ansteckender ist als Alpha (B.1.1.7), die Mutation, die uns im März die 3. Welle verschafft hat. Delta scheint sogar viel ansteckender zu sein, um ca. 50-60% (Quelle 1, Quelle 2). Alpha war im Vergleich zum Wildtyp der 1./2. Welle nur um +35% ansteckender und hat dann im Alleingang die 3. Welle verursacht.

Außerdem gibt es bei Delta noch einen “Immun-Escape”, d.h. die Impfungen wirken etwas schlechter gegen Delta, in meinem Modell rechne ich aktuell mit Reduzierung um 10%. Gegen Alpha scheint man 2 Wochen nach der 2. Impfung zu ~90% vor einer Infektion geschützt, gegen Delta nur zu ~80% (Quelle 2). Was aber im Umkehrschluss bedeutet: Die Gefahr an Delta zu erkranken ist als Geimpfter doppelt so groß (20%) wie bei Alpha (10%).

Die gute Nachricht: Der Schutz gegen schwere Verläufe oder gar Tod ist nach den bisherigen Daten nicht reduziert, davor ist man nach den bisherigen Daten als Geimpfter zu fast 100% geschützt.

Wie weit hat sich Delta bei uns schon verteilt? Wenn man sich die wenigen für Deutschland verfügbaren Zahlen des RKI anschaut, sieht das so aus:

In dieser Grafik sind die wöchentlichen Zahlen der VOC-Beobachtung des RKI aufgezeigt (Achtung: Verschiedene y-Achsen). Die gestrichelten Werte für die letzte Woche sind sicherlich noch nicht richtig, werden jede Woche durch Nachmeldungen nach oben korrigiert.

Klar zu sehen ist hier, dass Delta (schwarze Linie/linke Achse) schnell wächst (Verdopplungszeit 7-14 Tage), und zwar auch nach Woche 17, in der Alpha sinkt (durch die “Bundesnotbremse”). Die Maßnahmen der Notbremse reichen also nicht, um auch Delta auszubremsen.

Und das ist genau das gleiche Bild wie in UK, auch dort verbreitet sich Delta viel schneller als Alpha und es werden harte Einschnitte nötig werden, um das wieder einzufangen.

Wir sind in Deutschland aktuell irgendwo zwischen 3% und 10% aller Fälle, die durch Delta verursacht sind, mit stetig steigender Tendenz. Für die folgenden Modellrechnungen habe ich in der Woche des 7.6.2021 den Anteil der Delta Mutationen an den Neuinfektionen auf 10% gesetzt (Quelle 1, Quelle 2, Quelle 3). Bei der aktuellen schnellen Wachstumsrate und den noch anstehenden Öffnungen ist der genaue Wert dieser Voreinstellung aber nicht so entscheidend, das verschiebt nur die Spitzen um 1-2 Wochen hin oder her – der Verlauf bleibt der Gleiche.

Viel dramatischer sind die Unterschiede, die sich durch verschiedene “Fitness-Vorteile” von Delta ergeben: Wie viel ansteckender ist Delta?

Aus den (unvollständigen!) Zahlen aus Deutschland ergeben sich bisher ca. 20-25% mehr Ansteckung. In UK geht man von bis zu 65% aus. Es könnte sein, dass wir glimpflicher davon kommen als UK, weil bei uns der AZ Impfstoff einen kleineren Anteil hat, der insb. nach 1. Impfung noch nicht so gut schützt wie die mRNA Impfstoffe. Und weil wir weniger Reise-Austausch mit Indien haben als UK.

Ich habe hier zur Veranschaulichung der Unterschiede mit +20%, +30%, +40% und +50% gerechnet.

Wie man sieht: Sobald der R-Wert von Delta höher ist als bisher laufen wir in der Modellrechnung auch in Deutschland in eine 4. Welle.

Die +30%-Variante im Detail

Schauen wir uns mal – als konservative Perspektive – die +30%-Variante im Detail an: Im Juli würde Delta dominant werden, im September könnte nur noch ein Lockdown in der Größenordnung der Bundesnotbremse eine völlige Eskalation verhindern.

Wenn man die Inzidenzkurven der drei Varianten auf einer Log-Skala aufzeichnet, sieht das so aus:

Wenn meine Modellrechnung richtig wäre, hätten wir alle 5 Monate einen Peak gehabt. Anschlussfrage: Wann kommt dann die nächste, noch ansteckendere Mutation?

Zurück zur +30%-Variante: Das RKI könnte bis zu 30.000 Fälle pro Tag vermelden und auch in den Intensivstationen sieht man eine kleine vierte Welle mit Patienten aus allen Altersgruppen. Auch 30-100 Tote am Tag scheinen möglich.

Weiter mit Blick auf die +30%-Variante schauen wir uns die wöchentlichen Inzidenzen der Altersgruppen in der Modellrechnung an: Die Spitzenwerte bei den U20 werden schnell sehr hoch (ähnlicher Verlauf wie UK).

Hier sieht man aber schon, dass mein Modell die Reaktionen der Bevölkerung nicht komplett abbilden kann: Bei einer Schüler-Inzidenz von 500 oder mehr würden sicher viele Eltern ihre Kinder gar nicht mehr in die Schule lassen – oder es wäre sowieso ständig die halbe Schule in Quarantäne.

Die Wirkung der Impfungen ist aber gut zu sehen: der Schwerpunkt der Infektionen im September läge in der Modellrechnung bei den Schülern und jungen Menschen, die noch nicht geimpft werden konnten bzw. bei denen eine deutlich niedrigere Impfquote erwartet wird, als bei den Älteren. Alleine im September gäbe es in dieser Modellrechnung eine halbe Million Infektionen der U20. In diesem Umfeld die Schulen “sicher” zu machen dürfte eine große Herausforderung werden – außer mit Distanzunterricht.

Da wirkt auf mich der folgende Satz vom 11.6.2021 schon etwas surreal: “Die Schulen sollen trotz Corona-Pandemie in Deutschland im kommenden Schuljahr in den uneingeschränkten Präsenzbetrieb gehen. Darauf haben sich Bildungsministerinnen und -minister der Bundesländer verständigt.” (Quelle). Wir werden sehen, wie es dann tatsächlich kommt…

Wie könnten wir die 4. Welle vermeiden?

Wie können wir verhindern, dass sich das exponentielle Ansteigen von Delta in September in dieser steilen Kurve zeigt, die nur noch mit hartem Lockdown zu stoppen ist? Mit einer Policy-Regelung, die auf den R-Wert schaut, und nicht auf die Inzidenzen oder Krankenhaus-Betten-Belegung!

Im folgenden Modelllauf mit der +30%-Delta-Variante wurden die Lockerungen/Verschärfungen ständig so angepasst, dass der effektive Gesamt-R-Wert nur maximal 1-2 Wochen am Stück knapp über 1 liegen kann. Das würde einem Modell entsprechen, wo in jedem Landkreis oder jeder stark vernetzten Region individuell nach diesem Verfahren gelockert/verschärft wird. Die rote Linie zeigt, dass der REffektiv ab Juni ansteigt (Lockerungen und steigender Delta-Anteil) und dann um 1 schwankt.

Dafür nötig wäre von Juni bis Juli ein vorsichtiges Lockern, auf etwas mehr als Oktober 2020 Niveau (RWild=1,4), ab August absinken auf Verhältnisse vom Oktober 2020 (RWild=1,3) und im September/Oktober für einige Wochen auf die Maßnahmen von März 2020 (RWild=1,2). Damit bliebe die Gesamtinzidenz unter 15, bei den Schülern maximal 60.

Wobei diese Einschränkungen selten für das ganze Land gelten würden, sondern immer nur gerade dort, wo der R-Wert über 1 liegt. In vielen Landkreisen würden kaum bzw. nur wenige Einschränkungen gelten.

Politisch scheint das im Moment kaum durchsetzbar. Als Gesellschaft scheinen wir nicht fähig zu sein “jetzt ein wenig zu verzichten um im September/Oktober nicht so viel verzichten zu müssen”. Nun denn, dann also mit Vollgas weiter.

Lasst Euch impfen!

Fehlt in diesen Modellrechnungen ein wichtiger Aspekt, der die Zahlen besser oder schlechter macht?

Falls Du Korrekturvorschläge oder konstruktive Kritik hast zu meinen Annahmen oder Berechnungen, dann möchte ich gerne von Dir hören. Am besten via Twitter an @dpaessler.

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG