Update-Modellrechnungen: Wie geht es weiter nach dem BA.1-Peak?

Mir scheint wir sind über den BA.1 Peak hinweg (siehe mein Twitter Thread). Aber wie geht es weiter?

Kurzfassung:

  • Dass die Pandemie jetzt einfach abebbt ist m.E. noch nicht ausgemachte Sache
  • Die Lockerungen verlängern die Omikron-Welle um viele Wochen, in keinem Szenario hätten wir bisher wenigstens schon die Hälfte der Fälle erreicht.
  • Wenn wir die Lockerungen zu weit treiben könnten wir heftige Rebound-Wellen erzeugen.
  • Wahrscheinlich sollten wir die Lockerungen vom 20.3. um 2-3 Wochen nach hinten schieben.

Vorbemerkung #1: Dieser Blogpost zeigt die aktuellen Szenarien aus meinem Modell (unten beschrieben). Wie üblich bei Modellrechnungen zeige ich anhand von Szenarien mit unterschiedlichen Eingangs-Parametern wie sich der tatsächliche Verlauf der Pandemie in den nächsten Wochen entwickeln könnte. Aber keiner von uns kann heute sagen welcher Verlauf tatsächlich eintreten wird.

Vorbemerkung #2: Ich dokumentiere hier die mögliche Wirkung von verschiedenen Maßnahmen bzw. Änderungen, aber welche Maßnahmen-Änderungen zu welchem Zeitpunkt im Gesamtkontext die richtigen sind, weiß ich auch nicht. Wichtig ist mir hier die extremen Unsicherheiten und Risiken aufzuzeigen, die man bei jeder Entscheidung mit berücksichtigen muss. Ich bin auf jeden Fall froh, dass ich nicht entscheiden muss.

Viel Unsicherheit

Beim Modellieren der nächsten Wochen haben wir drei große Unsicherheiten zu berücksichtigen, die gemeinsam in drei Szenarien münden: einem zentralen, einem optimistischen und einem pessimistischen Szenario.

1. Unsicherheit: Wie stark ist die Wirkung der Lockerungen?

Die MPK hat diverse kleinere Lockerungen beschlossen, die umgehend und zum 4.3. erfolgen sollen. “Ab dem 20. März sollen in der dritten Stufe alle »tiefgreifenderen Schutzmaßnahmen« entfallen, sofern die Lage in den Krankenhäusern dies erlaubt. Dann sollen auch die nach dem Infektionsschutzgesetz verpflichtenden Homeoffice-Regeln entfallen.” schreibt der Spiegel und viele Bürger sind laut einer Umfrage damit einverstanden.

Aus Modellierer Sicht ist der Zusatz “sofern die Lage in den Krankenhäusern dies erlaubt” ein Erfolg für die Wissenschaft, bleibt damit doch wenigstens noch die Möglichkeit offen, auf ggf. steigende Zahlen zu reagieren. Dass der Infektionsdruck auf andere Bereiche (Schulen!) und dass Longcovid nicht berücksichtigt wird, ist wiederum unglücklich.

Die Schlüsselfrage ist: In wie weit wird die Mehrheit der Bürger die gelockerten Regeln “ausnutzen”, weil wir alle die Nase so voll haben, oder werden viele weiter auch ohne Regeln “bremsen”, insbesondere solange jeden Tag im persönlichen Umfeld Infektionen aufpoppen.

Im Modell habe ich im zentralen Szenario der R-Wert zum 21.2. um 3% angehoben, zum 7.3. um weitere 5% und zum 21.3. um weitere 10%. Das sind nur sehr kleine Änderungen, aber wie wir sehen werden, hauen sogar die schon ziemlich rein.

Der Großteil der “Magie” in der Berechnung von Szenarien für die Zukunft bleibt diese Festlegung des Verlaufs des R-Wertes. Da spielen Verhaltensänderungen der Menschen, die Veränderung von Maßnahmen und Teststrategien, die Saisonalität wie unten beschrieben und auch noch Ferienzeiten mit rein (die hier nicht berücksichtigt sind), dies alles muss man antizipieren/abschätzen.

Da wir uns gerade an einem sehr sensiblen Punkt der Pandemie befinden (gerade erst haben wir den Peak der BA.1 Welle gesehen, d.h. wir haben gerade erst den R-Wert von R=1 knapp unterschritten), bleibt die Frage nach dem Verlauf des R-Werts auch eine große Unsicherheit beim Modellieren. Jeder, der aktuell andere Modellverläufe berechnet, muss für diese Einflüsse irgendwelche Annahmen getroffen haben. Wenn andere Modelle zu anderen (hoffentlich besseren?!) Ergebnissen führen als hier gezeigt, möchte ich gerne deren Annahmen sehen (Hallo, RKI und BMG, kann ich mal Euer aktuelles Modell sehen?). Vielleicht liege ich ja auch falsch mit meinen.

2. Unsicherheit: Wann kippt Wirkung der Saisonalität?

Die Saisonalität wird im Modell als Sinuskurve mit Nullpunkten 21.3. (Frühlingspunkt) und 21.9. (Herbstpunkt) als Faktor zwischen -30% und +30% für den R-Wert modelliert. Besser wissen wir es nicht. Um die beiden Equinox-Punkte herum ist diese Annahme aber leider ungenau und kann gleichzeitig einen enormen Einfluss haben, wenn sich der R-Wert eh schon “um 1 herum” befindet. Das haben wir letzten Jahr auch schon gesehen, da hatten sich viele Modelle um beide Nullpunkte (Herbst/Frühling) herum schwer getan mit den Vorhersagen. Und wenn der Frühling etwas früher oder später kommt, wenn wir wieder mehr draußen sein können, verschiebt dies den Effekt auch nochmal.

Im pessimistischen Szenario verschiebe ich daher den Nullpunkt um eine Woche nach hinten, im optimistischen um eine Woche nach vorne.

3. Unsicherheit: Wie läuft es mit weiter mit BA.2 und macht BA.2 kränker?

Die Omikron-Variante BA.2 wächst stetig in Deutschland, wächst schneller als BA.1. Die Variante könnte einen eigenen “Variant of Concern” Buchstaben bekommen. “Der Subtyp BA.2 der #Omikron-Variante ist nicht nur deutlich ansteckender, er führt auch zu schwereren Krankheitsverläufen und ist für Antikörper schwieriger zu bekämpfen als der #Omikron-Urtyp..” (Quelle).

In meinem Modell wird BA.2 Ende Februar dominant, welche Wirkung das haben wird, wissen wir noch nicht:

Um diese Unsicherheit mit abzudecken habe ich im pessimistischen Szenario die Quoten für Hospitalisierung und ITS-Aufnahme um 10% höher angesetzt. Im optimistischen Szenario setzte ich die Werte um 10% runter.

Berechnungen für Fünf Szenarien

Im Modell habe ich nun 5 Szenarien durchgerechnet:

  • Zentrales Szenario: Der aus meiner Sicht wahrscheinlichste Fall
  • Pessimistisches Szenario: Lockerungen zum 20.3. haben eine um zusätzliche 10% steigernde Wirkung auf den R-Wert, die Saisonalität setzt etwas später ein und die Krankheitslast von BA.2 liegt 10% höher.
  • Optimistisches Szenario: Saisonalität kippt eine Woche früher und Krankheitslast ist um 10% niedriger.
  • Keine Lockerungen: Um die Auswirkungen der Lockerungen zu zeigen habe ich auch ein Szenario berechnet, in dem es zu keinen Lockerungen kommt.
  • 21.3. auf 4.4. verschieben: Wie würde es aussehen, wenn wir vom zentralen Szenario ausgehend die umfassenden Lockerungen vom 21.3. auf den 4.4. verschieben?

Verlauf der Inzidenz/Fallzahlen

Das Ergebnis sieht so aus:

In meinem zentralen Szenario (gelb), also der Variante die ich für am wahrscheinlichsten halte, würde die Inzidenz aufgrund der Lockerungen erstmal nicht unter 1200 fallen und nach dem 20.3. nochmals mit einer sogenannten “Rebound Welle” auf 1400 hochgehen. Diese Rebound-Welle ist in allen Szenarien zu sehen, außer wenn wir “keine Lockerungen” (lila) machen. Selbst im optimistischen Szenario würde die Inzidenz bis weit in den April um die 1.000 liegen. Wenn wir den 21.3. auf den 4.4. verschieben würden (rosa) könnten wir damit wohl den stetigsten Abwärtstrend bekommen.

Im pessimistischen Szenario (grün) würden die Öffnungen am 20.3. eine erhebliche Rebound-Welle erzeugen, die die Inzidenz bis über 2.000 treiben könnten. Und dabei habe ich – s.o. – mit “nur” +10% Wirkung auf den R-Wert gerechnet. Keine Ahnung was passiert, wenn wir einfach alle Maßnahmen fallen lassen würden.

Die Gesamt-Fallzahlen der Szenarien unterscheiden sich erheblich und in keinem Szenario hätten wir bisher wenigstens schon einmal die Hälfte der Welle erreicht!

Im zentralen Szenario setzt sich der Verlauf der Inzidenz wie folgt aus BA.1 und BA.2 zusammen:

Was bisher schon deutlich wird:

  1. Die (meines Erachtens sehr frühen) Lockerungen führen zu einer Verlängerung der Welle, mit allen Konsequenzen für den Krankenstand im Land. Das muss diese “Freiheit” sein, nach der die Befürworter rufen.
  2. Der “Raum-der-Möglichkeiten”, der sich hier in den Modellrechnungen aufspannt, ist immens groß und geht von erträglich bis katastrophal. Und dabei haben wir die Eingangsparameter nur mit sehr kleinen Beträgen variiert. Der weitere Verlauf ist “enorm empfindlich” gerade, wir haben weiterhin eine große Unsicherheit, ich kann hier auch erheblich daneben liegen. Auf jeden Fall ist die Entscheidungsgrundlage für Entscheidungen, die über 2-3 Wochen hinausgehen, sehr sehr dünn bis nicht vorhanden.

Die Frage ist jetzt: Welche Konsequenzen für die Kliniken und die Menschen im Land ergeben sich aus diesen Fallzahlen (wobei wir leider keine Daten zu Kindern/Jugendlichen/Schulen haben)?

Verlauf der Hospitalisierungen

Hier können wir jetzt einen besonderen Effekt sehen: Obwohl die Rebound-Welle des zentralen Szenarios (gelb) im April in der o.g. Inzidenzkurve nicht über den Peak im Februar steigt, steigt jetzt die gelbe Hospitalisierungskurve deutlich über den Peak aus dem Februar.

Was ist da los? Grund ist, dass sich die Omikron-Welle bis dahin von den jungen Jahrgängen in die alten Jahrgänge “durchgefressen” hat und die späte Welle aus viel mehr Fällen bei den Alten besteht. Dies liegt auch daran, dass die Wirkung der vielen Booster-Impfungen Ende 2021 gerade jetzt nach lässt und dass sich durch die vielen Infektionen in den jüngeren Jahrgängen schon eine gewissen Immunität breit gemacht hat.

Das kann man hier gut sehen (Grafik für zentrales Szenario):

Die Hospitalisierungen folgen insbesondere den Fallzahlen in den Ü60, die erst Ende März einen Peak haben (rosa Pfeil) was zu einem Peak bei den Krankenhausaufnahmen führt (grüner Pfeil).

Das ist auch hier gut zu sehen:

Zurück zum Szenario-Vergleich: Wenn wir den Tag der Öffnungen um 2 Wochen verschieben (rosa) findet die Rebound-Welle der Hospitalisierungen nicht in diesem Umfang statt. Sollten wir in das pessimistische Szenario reinkommen dürfte wohl der Halbsatz “sofern die Lage in den Krankenhäusern dies erlaubt” aus dem MPK-Beschluss (s.o.) zum Einsatz kommen.

In allen Szenarien, außer “Keine Lockerungen”, bleibt die Rate der wöchentlichen Krankenhaus-Einweisungen bei 10.000 oder knapp drunter, weil wir die Welle verlängert haben.

Verlauf der ITS-Betten-Belegung

Weil Omikron nicht mehr so viele Menschen auf Intensiv bringt sind diese Kurven – außer die pessimistische Variante – nicht so dramatisch wie die Hospitalisierungen, aber die Dauerbelastung von 2.500-4.000 COVID-ITS-Betten bis in den Mai wäre schon enorm, selbst im optimistischen Fall. Auch hier wirkt die Verschiebung der Inzidenz “in die Alten”.

Verlauf Personalausfälle/Krankenstand

Weil wir die Inzidenz nicht ernsthaft absenken können und weil sich die Infektionen stärker von den U20 in die älteren, mehr erkrankten Altersgruppen verschieben, bleibt im Modell der Krankenstand auf sehr hohem Niveau, in allen Szenarien mit Öffnungen. Bis Mai.

Validierung/Kalibrierung des Modells

Ich möchte mit einigen Grafiken zeigen, wie das Modell an den aktuell verfügbaren Daten “kalibriert” ist, damit sich jede/r Leser/in ein Bild davon machen kann, ob er/sie diese Berechnungen für valide hält.

Hier ein Vergleich aller meiner Omikron-Modelle seit dem 19.12.2021 (ausführlicher beschrieben hier):

Das Modell verwendet die Altersgruppen-Fallzahlen vom RKI bis zum 13.2.2022. Davon ausgehend wird danach jede Altersgruppen einzeln modelliert. Um zu prüfen, ob das Modell den tatsächlichen Verlauf gut nachbildet habe ich testweise den Verlauf der letzten vier Wochen ab dem 10.1.2022 im Modell laufen lassen und da werden die Altersgruppen und insb. die Gesamtinzidenz gut nachgebildet, wie folgende Grafik zeigt:

Die Hospitalisierungen sind ebenfalls für jede Altersgruppe einzeln modelliert. Diese Grafik zeigt, dass das Modell gerade für die letzten 3-4 Wochen die Zahlen vom RKI gut nachbildet, und dann weiterschreibt (Anklicken zum Vergrößern).

Die Case-Hospitalization-Rate der Altersgruppen entwickelt sich wie folgt:

Hier haben wir das gleiche für die ITS-Belegung im Vergleich zu den Altersdaten vom DIVI Intensivregister (Anklicken zum Vergrößern):

Anhang: Weitere Daten des Modells

Die verwendeten Impfraten:

Modellierte Schutzwirkung der Impfungen vor Ansteckung für Delta und Omikron (jeweils als kumulierter Gesamt-Prozentwert je Altersgruppe):

Zusammensetzung des Personalausfalls (zentrales Szenario):

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG