Ein Blick auf die “Pandemie-Mechanik” im Herbst 2022 mit Modellrechnungen

Kurzfassung

  • In den (hypothetischen!) Modellrechnungen mit den mir aktuell zur Verfügung stehenden Parametern scheint eine Welle im Sep-Nov 2022 kaum vermeidbar
  • Weder eine Impfkampagne noch frühzeitige Verhaltensänderungen scheinen eine signifikante Welle noch verhindern zu können (beide Optionen würden aber die Krankheitslast verringern)
  • Durch die verhinderten/verschobenen Infektionen und inzwischen absinkende Immunität könnten beide Optionen die Wellenspitze sogar heftiger ausfallen lassen
  • Die Welle würde wohl wieder zu spürbaren Personalausfällen führen (und Longcovid-Belastung)
  • Wir können nur hoffen, dass die relative Krankheitslast (CHR/CFR) weiter sinkt
  • Aber Achtung: Wir haben viele Unsicherheiten bei Fallzahlen, Immunität (Ausmaß des Verlusts nach Infektion/Impfung?) und Krankheitslast
  • Leute, nutzt die ruhige Zeit bis August weise!

Hinweis

Dass mein Modell für die nächsten 4-6 Wochen brauchbare Berechnungen erstellen kann, haben wir schon mehrfach gesehen, zuletzt gestern hier.

Langfristig ist die mathematische Mechanik der Pandemie immer noch die gleiche, wir können also auch noch weiter noch vorne schauen mit dem Modell, aber dabei steigt natürlich auch die Anzahl der ungewissen Parameter rasch an. Insbesondere über die (schwindende) Immunität nach Infektion/Impfung wissen wir ggf. noch nicht genug.

Eine zuverlässige Vorhersage ist also nicht möglich, aber wir können mit verschiedenen Szenarien erforschen, welche Parameter welche Wirkung auf das Gesamtergebnis haben könnten.

Einleitung

BA.5 und BA.2.12.1 sind da! Willkommen liebe Pandemie-Mathematik-Freunde zur nächsten Runde “Wellenreiten”. Springen wir mal wieder in eine Modellrechnung, die den Modellagnostikern Schweißperlen auf die Stirn treiben wird (ach bitte, lest doch einfach nicht weiter, wenn Ihr mit Mathematik, Eventualitäten und Modell-Szenarien nicht zurecht kommt).

In Deutschland werden u.a. die Varianten BA.5 und BA.2.12.1 in mehreren Quellen (RKI, Labor Becker, Labor Dr. Wisplinghoff) mit Wachstum ermittelt, während die Gesamtzahl der Fälle sinkt.

Das hatten wir ja nun schon ein paar Mal mit Alpha, Delta, Omikron: einige Woche später übernehmen dann die neuen Varianten das Infektionsgeschehen, weil sie ansteckender sind als die vorherige Variante. Mit der Besonderheit, dass jetzt wohl sogar mindestens 2 Varianten gleichzeitig auf dem Weg sind.

Das kann man in dieser Grafik von @icestormfr mit den Daten des RKI sehen:

Quelle: https://twitter.com/icestormfr/status/1527254066597924864/photo/4

Szenario 1: Business as usual

Wenn ich diese Verläufe als eigene Varianten in meinem Modell nachbilde (beide mit ca. 30% höherem R-Wert als BA.2) und unser Verhalten der letzten Wochen erstmal beibehalte sieht das so aus:

Dabei muss man aber natürlich dazu sagen, dass das deutsche Zahlenwerk der Pandemie-Beobachtung in den letzten Monaten auf so vielen Ebenen sabotiert worden ist, dass wir sowohl was die aktuellen Fallzahlen (Dunkelziffer?) als auch was die Suche nach Varianten angeht ein hohes Maß an Unsicherheiten haben.

Es ist zwar möglich mit den vorhandenen Zahlen weiterzurechnen, aber diese Schwäche der Beobachtungen müssen wir im Hinterkopf behalten. Und wir haben ja auch nichts besseres. Also weiter…

Wenn ich im Modell dann diese beiden Varianten mit einrechne, sieht das so aus (wobei im Sommer Bremseffekte durch die Ferien und später dann durch Verhaltensänderungen der Bevölkerung bei Inzidenzen über 2.000 eingerechnet sind):

In etwa Ende Juni würde das Absinken der Inzidenzen enden und die beiden Varianten würden die Mehrheit an den neuen Infektionen übernehmen (@rv_enigma kommt auf den gleichen Zeitpunkt, @RolandJger4 sogar noch etwas früher). Die Fallzahlen steigen ab dann wieder an.

Das Modell kann zwar einen weiteren Verlauf ab Juli berechnen, aber den stelle ich hier aufgrund der Unsicherheiten nur verschwommen dar und schneide die Spitzen weg, damit keiner meint, dass man aktuell tatsächlich berechnen könnte, was im Herbst genau passiert.

Weder die Höhe noch der Zeitpunkt der Wellenspitze auf der Zeitachse ist genau bestimmbar, aber wie können die Form der Kurve wohl bereits jetzt qualitativ abschätzen.

Wenn man die Inzidenzkurven zusammenrechnet sieht das dann in Summe so aus:

Diese Welle würde dann im Modell enden wenn sich durch Millionen von Infektionen genügend Immunität entwickelt hat (wobei das Ausmaß an Kreuzimmunität noch unklar ist, was sowohl positive wie negative Überraschungen für uns parat haben könnte):

Das sieht nicht gut aus. Die Krankheitslast der neuen Varianten müsste nochmals geringer sein als bei den aktuellen Varianten damit so eine Welle nicht wieder in den Krankenhäusern zur außergewöhnlichen Belastungen führt. Ob das so ist oder nicht, kann aktuell m.E. keiner sagen.

Beim Übergang Delta/Omikron gingen Case-Hospitalization-Rate und die Case-Fatality-Rate deutlich runter – das bleibt eine Hoffnung für das Gesundheitssystem. Wenn wieder Millionen von Menschen auf einmal erkranken werden wir das aber wohl mindestens im Alltagsbetrieb merken: Personalausfall. Und Longcovid muss man auch immer bedenken.

Das Drehen der Saisonalität etwa zur Sonnwende (die uns seit Weihnachten beständig stärker beim Bremsen geholfen hat, was m.E. viele als ein “ach, ist doch alles nicht so schlimm” interpretiert haben), die den R-Wert bis Weihnachten beständig erhöhen wird, in Kombination mit einem nochmals ansteckender/hohen R-Wert UND der sinkenden Immunität ist brutal, wenn man fast keinerlei Maßnahmen mehr aufrecht erhält.

Was können wir tun? Szenario 2: Mehr impfen

Das oben gezeigte Szenario 1 geht davon aus, dass wir vom aktuellen Niveau der Impfungen aus kaum Fortschritte mehr machen, die Impfraten bleiben flach:

Für Szenario 2 simulieren wir nun eine Impfkampagne, die die Anzahl der Erst/Zweit-Impfungen um 10 Prozentpunkte anhebt (von 75% auf 85%) und die Booster-Rate von 60% auf 75%. Die 4. Impfung ist im Modell noch nicht berücksichtigt, würde aber die Grundaussage dann auch nicht mehr groß verändern (aktuell sind <6% vier mal geimpft).

Mit diesen Impfraten sieht die Entwicklung bis in den Herbst so aus:

Eine Welle haben wir trotzdem, etwas später, aber die Gesamt-Anzahl der Infektionen im Herbst wird um ca. 30% gesenkt, ebenso die Patientenzahlen. Im Oktober/November musste ich ein Verhalten wie im März 2022 einrechnen um die Wellenspitze im Griff zu behalten.

Hm, so richtig der Knaller an Wirkung ist das mit der Impfkampagne nicht. Weil man als “mit-den-bisherigen-Impfstoffen-Geimpfter” eben doch nicht gut genug gegen Omikron-Ansteckung geschützt ist. Von neueren Impfstoffen haben wir bisher nicht viel gehört. Damit diese gegen die ab Juli hochlaufenden Varianten helfen könnten, müssten sie bis Juli schon in Millionen Armen gelandet sein. Das wird offensichtlich nicht passieren.

Was noch?

Szenario 3: Frühere Verhaltensänderungen

Bisher habe ich in beiden Szenarien erst dann Änderungen im Verhalten der Bürger simuliert wenn die Inzidenz über 2.000 ging. Was passiert, wenn wir schon früher bremsen, z.B. ab Juli ein Verhalten wie ca. Ende März 2022? Ob das die Bürger in Eigenverantwortung machen oder ob das vorgegeben wird, das lasse ich hier mal völlig außer Betracht. Es geht um den mathematischen Effekt. Und der dürfte viele überraschen: Die Wirkung wäre zwar ähnlich der Impfkampagne, d.h. in der 2. Jahreshälfte wären im Vergleich zu Szenario 1 auch die Fallzahlen um 30% niedriger und der Wellenkamm käme später.

Aber: Im Oktober/November muss ich gar einen Lockdown auf “Dezember 2020”-Niveau anwenden, damit die wöchentlichen Fallzahlen nicht völlig spinnert werden. Mit ein Grund ist die Tatsache, dass die Welle später kommt und damit der Wellenkamm zu einem Zeitpunkt auftritt, an dem die Saisonalität stärker “treibt” (die wendet sich erst an Weihnachten wieder zu unseren Gunsten).

Also…

Mein Modell erwartet eine neue Welle (andere Modellierer kommen zu ähnlichen Ergebnissen). Mir gefallen alle gezeigten drei Szenarien nicht. Aber mir gehen auch die Ideen aus. Ein Hoffnungsszenario wäre, dass die (Kreuz-) Immunität der Omikron-Varianten besser ist als modelliert (Modell: Omikron-Infektion schützt zu 55% für 12 Wochen, 38% bis Woche 24, dann 35%, alle Omikron-Varianten haben im Modell die gleiche Kreuzimmunität, was ggf. zu optimistisch sein könnte).

Hat noch jemand eine Idee, was man tun und somit modellieren könnte, um die Welle zu vermeiden?

Ohne einen breit verteilten Impfstoff, der vor Ansteckung mit Omikron mit brauchbarem Prozentsatz schützt, kann nur Immunität nach Infektion oder Lockdown-ähnliches Verhalten (siehe China, bei uns wohl kaum mehr durchsetzbar) einen Virus im Schach halten, der so ansteckend ist wie BA.5 oder BA.2.12.1 und die Immunität umgehen kann.

Blöd ist nur, dass eine einmal durch Infektion erworbene Immunität nicht ewig hält. Ich bin froh, dass ich nicht politisch/exekutiv entscheiden muss, wie man mit dieser Situation umgeht. Dabei muss LongCovid als sich bei Millionen (Re-)Infektionen potentiell zur Volkskrankheit entwickelnden Belastung der gesamten Gesellschaft mit eingerechnet werden.

Zu hoffen, dass es nicht so schlimm kommt, ist aber sicher keine “Strategie”. Dabei ist klar, was wir brauchen, denn das ist alles nichts neues: Luftfilter, Lüftungssysteme, Masken, Teststrategien, Impfungen, weniger große Versammlungen in Innenräumen, usw.

PS: Leute, nutzt die ruhige Zeit bis August weise!

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG