5 Szenarien mit B.1.617.2 für die nächsten 3+ Monate

Update: Hier gibt es ein Update mit Delta/B.1.617.2 Modellrechnungen.

Die Mutation B.1.617.2 aus Indien macht sich daran, die Welt vom vorherigen Erhöhte-Ansteckung-Anführer B.1.1.7 zu „übernehmen“. Australien und Japan schon über 50% der Sequenzierungen, UK überschreitet 50% in diesen Tagen.

Die Ansteckung ist so signifikant erhöht, dass das massive Auswirkungen auf unsere nächsten 2-3 Monate haben könnte, wenn sie sich bei uns ausbreitet. Was zu erwarten ist, denn diese Variante ist schon bei uns, weil unsere Grenzen “so löchrig sind” (erst seit einigen Tagen muss man bei Einreise aus UK in Quarantäne!).

Aber es fehlen wieder einmal gute Daten. Also nehmen wir die bisher bekannten Daten aus England und verwenden sie für Deutschland.

Schauen wir uns mal mit Modellrechnungen an, wie das aussehen könnte.

Hinweis für Modellierungs-Agnostiker: Was folgt sind Berechnungsmodelle, die versuchen verschiedene theoretische Szenarien für die nächsten Monate durchzuspielen – um ein Verständnis für die Zusammenhänge der Pandemie zu bekommen. Dies sind keine Vorhersagen! Wenn Dir die Arbeit mit solchen Gedanken-Modell nicht gefällt, dann klick/scroll einfach weiter, und bitte erspare uns Deinen Kommentar. Danke.

Alle anderen sind eingeladen, den folgenden Gedankengängen zu folgen.

Das Problem bei dieser Mutation ist der Zeitpunkt: Sie kommt zu früh, genauso wie für England, das sogar schon mehr geimpft hat. Wie wir sehen werden sind noch nicht genügend Menschen geimpft um die 4. Welle aufzuhalten. Die aktuellen Daten sagen klar, dass zwei Impfungen nötig sind, um einen guten Schutz gegen Ansteckung zu erlangen, es sind einfach noch zu viele Menschen, die sich infizieren könnten.

Die neue Mutation kann die Impfstoffe außerdem ein stückweit umgehen, insbesondere bei nur 1x Geimpften. Dies modelliere vorsichtig ich mit 10% Immun-Escape.

B.1.617.2 scheint insgesamt ca. 50% ansteckender zu sein (50% höhere Secondary Attack Rate) als die schon ansteckendere Variante B.1.1.7 aus England. Dies dürfte sehr wahrscheinlich auch den R-Wert um 50% erhöhen. Das ist wirklich viel!

Ich bleibe etwas vorsichtiger und verwende als Faktor 1,75 für B.1.617.2 und wie gehabt 1,35 für B.1.1.7 (im Vergleich zum Wildtyp), in Kombination mit 10% Immun-Escape bei B.1.617.2. Laut RKI liegt B.1.617.2 in KW 19 bei ca. 2% der Infektionen in Deutschland, diese Zahl ist wahrscheinlich noch zu niedrig. Aber wir nehmen sie mal als Ausgangsbasis.

Mein Basis-Szenario (1/5)

Wenn ich diese Daten in mein Modell reinstecke und unser Verhalten sowie die nötigen Maßnahmen wie Lockdowns usw. so modelliere, dass die 4. Welle in den Intensivstation unter der 3. Welle bleibt und die Gesamtinzidenz unter 250-300 bleibt, dann könnte der weitere Verlauf so aussehen:

Erstmal lockern wir in den nächsten Wochen. Ende Juni würden wir in Deutschland die Inzidenz 100 überschreiten. Weil zeitgleich das Bundesnotbremse-Gesetz ausläuft und ich bezweifle, dass wir dieses Gesetz schnell genug verlängert bekommen, wären wie Ende Juli bei Inzidenz 200. Wenn man sich die letzten beiden Wellen anschaut, dann bremsen wir in Deutschland immer erstmal ein bisschen (=Abflachen des Wachstums) um dann einige Wochen später klar zu bremsen (=Lockdown/Notbremse). Das habe ich hier auch wieder modelliert, und damit ergäbe sich eine Abfolge von Verschärfungen/Lockerungen wie folgt:

ZeitraumKommentarRWild (entspricht ca.)
bis ca. Mitte Juni Wir öffnen weiter, weil “die Zahlen sinken”1,3 (Oktober 2020)
Anfang Juliwir merken: “ohje, da kommt was”, die Menschen sind bereits vorsichtiger 1,2 (März 2021)
Ende Juli Die Politik ist soweit, Maßnahmen auf den Weg zu bringen, und macht etwas zaghaftes 1,05
August Weil die Zahlen aber weiter steigen senkt das Verhalten der Menschen RWild1,0 (November 2020)
Anfang SeptemberHier wären wir kurz vor Inzidenz 300, in der Gruppe der ungeimpften U16 schon bei 700 zum Schulanfang. Nur noch eine Notbremse-ähnliche Aktion kann das weitere Wachstum stoppen.0,85 (Bundeslockdown Stufe 2)
Ende Septemberleichte Lockerungen möglich0,9 ?
Oktoberleichte Lockerungen möglich 0,95 ?
NovemberWir haben Inzidenz 100 unterschritten???

In der folgenden Grafik sieht man, dass die 4. Welle bei diesem fiktiven Ablauf auf den Intensivstationen etwa halb so schlimm ankäme wie die 3. Welle. Aber wie hätten im Sommer auch wieder jede Woche über 1000 Tote. Und viele Longcovid-Patienten, viele davon U16.

Fazit: Das ist alles andere als ein “guter Sommer”.

Szenario 2/5: 20% statt 40% ansteckender

Und wenn es nicht ganz so schlimm kommt? Wenn sich die Ansteckung bei B.1.617.2 nur um 20% erhöhen würde, anstatt wie gerade eben berechnet um 40%, dann würden wir mit RWild=1,3 über Juni und Juli kommen, erst im August die Inzidenz 100 übersteigen, müßten ab Ende August erst etwas, dann stärker bremsen (RWild=1,0).

Fazit: Die 4. Welle scheint mir sehr schwer vermeidlich. Jede nennenswerte Erhöhung der Ansteckung scheint – insb. zusammen mit Immun-Escape – ein Problem.

Szenario 3/5: Wir impfen 50% schneller

Wenn wir es schaffen würden, 50% schneller zu impfen, als ich das im Modell angenommen habe. Dann würden bereits Ende Juni alle Impfwilligen die zweite Dosis haben.

Dann könnten wir uns – im Vergleich zum Basis Szenario 1 – jede Woche einen um 0,05 höheren R-Wert erlauben, nur im Herbst müssten wir noch etwas runter.

Fazit: Das Impfen rettet uns nicht vor der 4. Welle. Was aber wenigstens für den Herbst helfen könnte: Die Impfrate näher an oder über 80% zu bringen. Für alle inkl. U16. Dafür müssten wir in wenigen Wochen noch eine Menge Menschen und Eltern überzeugen!

Szenario 4/5: Wir lockern erstmal nichts

Letzte Variante: Wir machen ab heute keine Lockerungen mehr. Keine Vollpräsenz in Schulen usw.

Das Ergebnis wäre: Erst Ende August wären wie bei Inzidenz 100 und müßten in “Notbremse Stufe 1” Modus gehen und dort bleiben bis spät ins Jahr. Der Sommer wäre ganz gut, insgesamt bliebe die Situation viel berechenbarer für alle, denn der unausweichlich kommende Anstieg wäre viel flacher.

Fazit: Wir hätten mehr Freiheiten als in allen anderen Varianten.

Szenario 5/5: Wir lockern und lassen es laufen

Was würde passieren, wenn wir jetzt wie geplant lockern, und dann aber nicht mehr “eingreifen”? Ich denke die Grafiken sprechen für sich. Bis Ende August wären alle infiziert. Ohne Bremsen läuft B.1.617.2 einfach durch.

Fazit: Klar, das ist nur ein theoretischer Vorgang, er zeigt aber, dass wir irgendwie reagieren müssen.

Gesamt-Fazit

Schnell unterschätzt man die möglichen Auswirkungen einer deutlich ansteckenderen Variante wie B.1.617.2. Wenn sich die Zahlen aus UK bestätigen, dann zeigen die hier gezeigten Modellrechnungen, dass wir uns in eine erneute herausfordernde Phase der Pandemie hineinbewegen würden.

Was wir schnell lernen sollten:

  • Wir brauchen eine bessere Strategie im Umgang mit neuen Wellen, die 3. Welle war nicht die letzte, die 4. Welle wird nicht die letzte sein. Doch nochmal über NoCovid nachdenken? Australien hat zwar hohen B.1.617.2 Anteil, aber kaum Fälle.
  • Wir brauchen eine bessere “Surveillance”, d.h. viel mehr Virus-Proben müssen täglich sequenziert werden, damit wir die nächsten Mutationen im Land besser einschätzen können.
  • Impfen ist unser Masterschlüssel. Sobald ein großer Teil der Bevölkerung geimpft ist, werden uns neue Mutation nicht mehr so beschäftigen müssen. WENN sich nicht Mutationen entwickeln, die die Impfstoffe massiv umgehen. Also Impfen was das Zeug hält, und Überzeugungsarbeit für die, die sich noch nicht impfen lassen wollen.
  • Es wird neue Mutationen geben, solange sich irgendwo auf der Welt viele Menschen infizieren: unser Ziel muss es sein, zusammen mit den anderen reicheren Ländern der Welt dafür zu sorgen, dass bald Milliarden Menschen geimpft werden können, damit die Kette der Mutationen irgendwann abebbt.
  • Wir brauchen besseren “Grenz-Schutz”: Dass man nach (Fern-) Reisen z.T. ohne kontrollierte (Hotel-) Quarantäne nach Deutschland einreisen darf, fällt uns nun schon zum zweiten Mal auf die Füße.

Und nun hoffe ich, dass diese Szenarien alle nicht so kommen. Das haben wir aber nicht in der Hand, das entscheidet die Höhe der Ansteckungsrate von B.1.617.2 für uns.

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG