Modellrechnung: Was passiert mit bzw. ohne Lockdown? Und danach?

Kurzfassung:

  • Auch ein sofortiger Lockdown vermeidet im Modell nicht mehr die Überlastung des Gesundheitssystems in 1-3 Wochen (mind. regional).
  • Trotzdem würde ein Lockdown ab Montag im Vergleich zu einem unkoordinierten weiteren Verlauf zehntausende Tote und viel anderen Ärger vermeiden.
  • Wir sind am “Rand des Messbaren und Modellierbaren”, könnten in diesen Tagen Durchblick & Kontrolle über die Situation zu verlieren.
  • Ohne Impfpflicht (direkt oder indirekt) und ohne bessere, vorher abgestimmte und schnell reagierende Maßnahmen-Kataloge werden wir m.E. wahrscheinlich im nächsten Winter wieder an der gleiche Stellen stehen wie jetzt.

Einleitung

Es könnte sein, dass das hier für einige Zeit der letzte Blogpost mit Modellrechnungen sein wird. Zum Einen, weil unsere Datenqualität gerade komplett am abka**en ist (viele sind überfordert: Teststationen, Labors, Meldewesen, Kliniken, usw., siehe Blogpost vom Samstag zum Daten-Nebel) und außerdem erwarte ich nicht, dass sich in den nächsten 1-2 Wochen großartige neue Ereignisse ergeben werden, die eine neue Berechnung der Situation erfordern. Handeln müßten wir halt.

Mein Modell hatte für 22.11. morgens eine Inzidenz von 470 berechnet, Risklayer meldet 407, also 14% weniger. Wir wissen nicht, ob diese 14% tatsächlich weniger Infektionen darstellen, oder ob die 14% im Meldewesen versackt sind und in die Dunkelziffer gerutscht sind oder und. Bleiben wir optimistisch und nehmen an, dass sich die Wachstumsgeschwindigkeit tatsächlich etwas gesenkt hat.

Im Vergleich zu den letzten Modellrechnungen habe ich jetzt die Anzahl der Booster-Impfungen pro Woche hochsetzen können und modelliere das Boostern deutlich optimistischer, nachdem das Boostern nun endlich in Gang gekommen ist (siehe grüne Linie). Das macht die Aussichten bis Februar schonmal besser als vor 2-3 Wochen.

Wie immer der Hinweis für Modell-Agnostiker, dass Modellrechnungen nur Skizzen einer möglichen Zukunft sind – keine Vorhersagen! Das reale Gesamtkunstwerk, dass sich am Ende ergibt, wird mit Sicherheit anders aussehen als diese vorher angefertigten Skizzen.

Extremfälle: Alle Maßnahmen fallen lassen vs. Volk-macht-selbst vs. Lockdown

Ich möchte mal den Erwartungsraum der theoretisch möglichen Entwicklungen aufzeigen:

Szenario X:

Wenn wir – völlig hypothetisch – heute alle bestehenden Maßnahmen fallen lassen würden (zurück auf Januar 2020, R-Wert freigeben), und sich das Virus komplett unkontrolliert verbreiten könnte, dann passiert in meinem Modell Folgendes:

In dieser hypothetischen Modellrechnung wären bis Ende des Jahres 33 Millionen vulnerablen Geimpfte und 14 Millionen Ungeimpfte durchinfiziert (blaue Linie). 800.000 Patienten hätten ein ITS-Bett gebraucht (das sie natürlich nicht bekommen hätten) und es hätte ab heute ca. 450.000 Tote gegeben, wenn wir die Patienten optimal versorgt hätten (was wir nicht gekonnt hätten). So läuft eine Pandemie im Extremfall ab, am Ende kann keiner mehr infiziert werden, bis der Immunschutz Jahre später von alleine nachlässt. Wie gesagt: Das ist graue Theorie.

Szenario A2: keine staatlichen Maßnahmen

Wesentlich realistischer ist es natürlich, dass die Menschen reagieren werden, wenn immer mehr schlechte Nachrichten aus Kliniken und dem eigenen Umfeld kommen. Dann könnte es z.B. zu diesem Verlauf kommen:

Etwa 3 Millionen Ungeimpfte (1/8 der Ungeimpften) und 5 Millionen Geimpfte würden erkranken, dann käme die Welle zum Stehen und wir hätten ab heute ca. 60.000 Tote zu beklagen. Immer noch ein völlig katastrophaler Verlauf, aber aus aktueller Sicht keine völlige Unmöglichkeit (Politiker schließen Lockdowns aus oder kommen damit viel zu spät).

Hier sieht man auch, dass noch 7/8 der Ungeimpften übrig sind als “Futter” für den Start in die nächste Welle, wenn wir die vorher nicht geimpft bekommen! Dann kann das alles wieder losgehen, es ist immer noch genug Treibstoff da. Impfpflicht, bitte, direkt per Gesetz oder indirekt per Regelungen!

Dieses Szenario ist übrigens das mit dem größtmöglichen Fehler, weil es auf Annahmen beruht: Ich musste dafür den R-Wert-Verlauf abschätzen, der abhängig davon wäre wie sich das Verhalten der Menschen verändert und welche lokalen Maßnahmen Bundesländer oder Gemeinden einführen, z.B. den über-1000-Lockdown in Bayern. Am Ende muss es zwischen Szenario A1 (keine Gegenwehr) und die folgenden Lockdown Szenarien “passen”, was es plausibel tut.

Szenario A3: Lockdown ab 29.11.2021

Würden wir nächsten Montag einen knackigen Lockdown mit 35%-R-Wert-Absenkung starten (z.B. Schulen zu, Home-Office für alle, Gastro/Läden mit minimaler Besucherzahl) ergibt sich ein ganz anderes Bild:

Je ca. 2 Mio Ungeimpfte und Geimpfte wurden infiziert und ab heute hätten wir bis Frühling “nur” ca. 26.000 Tote zu verzeichnen. Der Spitzenwert der ITS-Betten liegt um 14.000 für 2-3 Wochen um den 13.12., und damit deutlich über den 9.000 “betreibbaren ITS-Betten”: Dieses “Best-Case-Szenario” für Deutschland wird also kaum ohne Triage im Gesundheitssystem hinhauen, weil 50% mehr ITS-Betten benötigt würden, als vorhanden. Puh.

Selbst mit sofortigem Lockdown wird es eng… Was wäre mit späterem Lockdown?

Die folgenden Grafiken und Zahlen vergleichen die Folgen wenn wir jeweils am Montag der nächsten Wochen einen Lockdown machen. Ich habe mit 35% R-Wert-Senkung durch den Lockdown gerechnet. Was dafür genau nötig ist, kann m.E. keiner genau sagen. Ich schätze, dass dafür eine Menge in den Schulen passieren muss (Kita/Schulschliessungen, geteilter Unterricht, Aussetzung der Schulpflicht, verlängerte Weihnachtsferien), dieser Bereich hat die stärkste Einzelwirkung. Dazu eine weitreichende Home-Office-Pflicht-wo-möglich und auch Einschränkungen in Gastro und Handel werden nötig sein (mindestens zwei dieser drei Optionen sind mindestens nötig, wäre meine Einschätzung). Ggf. wird man auch Kontaktbeschränkungen (max 5 Personen aus 2 Haushalten, usw.) wählen. Alles Entbehrliche entfällt komplett.

Die Szenarios im Einzelnen sind:

  • A1: ungebremstes Wachstum ohne Gegenwehr
  • A2: kein koordinierter Lockdown, Reaktionen ab 15.11.
  • A3: A2 + 35% Lockdown 29.11.2021
  • A4: A2 + 35% Lockdown 6.12.2021
  • A5: A2 + 35% Lockdown 13.12.2021
  • A6: A2 + 35% Lockdown 20.12.2021

Das sieht dann so aus:

Im oberen Graph sieht man, wie sich diese 4. Welle ohne Lockdown und mit Lockdowns nach jeweils einer weiteren Woche entwickeln würde. Ohne Lockdown zieht sich die Welle bis in den Februar/März auf hohem Niveau weiter.

Im untere Graphen sieht man, dass die sich real entwickelnde ITS-Belegung (schwarze Linie) jetzt schon nicht mehr auf der Höhe der zu erwartenden Zahlen bewegt. Meine These dazu ist, dass das ITS-System bereits jetzt die COVID-19-Patienten weniger und kürzer versorgt, d.h. dass die Behandlungsqualität aus Lastgründen jetzt schon runtergeht (“stille Triage”). Leider wissen wir die weitere Entwicklung hier nicht genau, weil wir diesen Effekt bisher m.E. noch nicht verstehen. Da die Personen, die jetzt schon auf Intensiv fehlen, vor 2-3 Wochen infiziert wurden, wissen wir, dass diese Ausgangszahlen keine Modellrechnung mehr sind, sondern real sind. Die ITS-Quote kann sich nicht so schlagartig ändern, und das Boostern ist im Modell bereits eingerechnet. WO also sind diese 2.000 infizierten Menschen, die gerade nicht ITS ankommen? Finden wir die dann in der Übersterblichkeits-Quote?

Da bleibt also vorerst eine Unsicherheit. Aber viel Luft nach oben haben wir auch nicht: Die DIVI geht im Moment von ca. 9.000 betreibbaren ITS-Betten in Deutschland aus, aber das schließt natürlich die Intensivbehandlungen für alle anderen Erkrankungen auch mit ein. Das ist also ein nur theoretisches Maximum.

Die Folgen der Szenarien sieht man im Bar-Chart.

Ein sofortiger Lockdown am Montag würde mehr als die Hälfte der Toten und Patienten vermeiden (im Vergleich zu Szenario A2). Wenig überraschend: Je später der Lockdown desto weniger Schadensvermeidung. Hier in Zahlen (wie gesagt: keine Vorhersagen, die Zahlen sind nur für den Vergleich der Szenarien untereinander geeignet, nicht als absolute Werte zu verstehen!):

Warum hier eigentlich überall nur “Alarm” drauf steht

Abgesehen davon, dass ich das verdammte Gefühl nicht los werde, dass diese Modellrechnungen alle noch zu optimistisch sind, gibt es noch fünf weitere Gründe, wegen denen wir sofort versuchen sollten, irgendwie näher ans Szenario A3 (landesweiter Lockdown ab Montag) zu kommen:

  1. Die Überlastung des ITS-Systems wird in keinem der vorgestellten Szenarien noch vermieden. Dabei sind die Intensivstationen nur “die Spitze des Eisbergs”, wenn es dort eng wird, ächzen auch die vorgelagerten Versorgungsstufen (ambulante Versorgung, Hausärzte, Rettungsdienste, Notaufnahmen, Normal-Stationen). Dies werden auch alle Nicht-Covid-Patienten zu spüren bekommen, die durch unversorgte andere Notfälle verursachten Patienten und Toten sind hier noch gar nicht eingerechnet.
  2. Auch in anderen Lebensbereichen wird es zu Engpässen kommen, z.B. wie bei der Polizei in Sachsen: Man “wisse nicht, wie lange der Dienstbetrieb in den einzelnen Revieren aufrechterhalten werden könne.”.
  3. Mein Modell mittelt über ganz Deutschland. Wir sehen jetzt schon, dass Sachsen und Bayern schon am Ende der Möglichkeiten angekommen sind. Wenn meine oben gezeigten Szenarien eintreten, wird ein Großteil Deutschlands davon betroffen sein.
  4. Unsere Datenbasis ist jetzt schon massiv beschädigt: in vielen Regionen wissen wir eigentlich gar nicht mehr richtig, was los ist, wenn 86% der Labor-Kapazitäten schon letzte Woche ausgenutzt waren. Blindflug!
  5. Die Tatsache, dass Modelle nicht mehr funktionieren nachdem sie wochenlang gut gepasst haben, ist ein letztes Alarmzeichen vor dem völligen Kontroll-/Vorhersage-Verlust.
https://twitter.com/dpaessler/status/1463122768707338247

Die Gesamt-Analyse ist bitter: Aus meiner Sicht haben wir als Gesellschaft versagt, insbesondere beim Schutz der Kinder und Jugendlichen (=unsere Zukunft) aber auch den Alten: Wir haben die Ansteckung von Millionen jungen Menschen mit einem Virus zugelassen, von dem wir nicht wissen wie seine Langzeitwirkungen sind, jetzt rumpelt der Virus durch die komplette Bevölkerung. Jetzt müssen wir wieder Schulen, Läden, Gastronomie zumachen, zumindest teilweise. Wir haben es verbockt. Weil wir nicht mit Blick in die Zukunft agiert haben.

Wann kommen wir zur Besinnung?

Vergleich mit anderen Modellen

Das Modell der Divi sagt aus:

  • Man geht von “ca. 6.000 COVID19-Intensivpatienten aus, wenn Inzidenz maximal 400/100.00 erreicht.” Ein so optimistisches Szenario habe ich gar nicht mehr. Dafür muss ich in meinem Modell den Lockdown auf den 15.11.2022 in die Vergangenheit vorverlegen. Dann ist die höchste ITS-Betten-Belegung durch COVID-Patienten in meinem Modell bei knapp 8.000. => Passt.

Das Modell von Prof. Dr. Kristan Schneider (Hochschule Mittweida) macht u.a. folgende Aussagen:

  • Ohne neue Einschränkungen würden in Deutschland im Laufe der vierten Welle mindestens 200.000 Menschen mehr sterben als bei einer Notbremse wie im Frühjahr.” Das ist bei mir der Unterschied zwischen A1 und A3, wobei bei mir “nur” 120.000 Tote entstehen. => Passt.
  • Beim “Notbremse”-Szenario kommt Prof. Schneider auf 1 Mio gleichzeitig Infizierte Anfang Dezember, bei mir sind es ca. 900.000 Infizierte. => Passt.

Ausblick: Kann eine 5. Welle kommen?

Um es gleich vorneweg zu sagen: Ja, es kann jederzeit ab Ende dieser Welle schon die nächste Welle kommen. Durch die große Impflücke bei den Ungeimpften und noch ausstehende Booster-Impfungen könnten sich in meinem Modell im März immer noch 35 Millionen Menschen anstecken:

Wenn ich im Modell für das Szenario A3 nach dem Lockdown am 1.2. einen “Freedom-Day” modelliere, der weitgehende Öffnungen erlaubt, dann sieht das so aus: Willkommen 5. Welle. Ich hoffe wir werden doch irgendwann klüger…

Also: Wir müssen die Impflücke schließen (Impfpflicht bitte) UND wir werden eine R-Wert-basierte Steuerung für regionale Maßnahmen brauchen (“Grüne-Zonen-Konzept“). Selbst wenn wir bis Sommer 2022 ca. 90% Impfrate erreicht hätten, könnten wir im nächsten Herbst nicht einfach so tun, als wäre die Pandemie zu Ende: Ein Winter wird m.E. vorerst nicht ohne einzelne, gezielte Maßnahmen gehen. Diese Maßnahmen müssen dafür sorgen, dass der R-Wert niemals nie wieder nicht für Monate über eins liegt, egal ob regional oder in ganz Deutschland – was dann passiert sehen wir ja gerade. Sobald der R-Wert in einer Region über eins liegt, muss die Region gegensteuern. Wenn wir das regional schaffen, dann kann Gesamtdeutschland die 5. Welle erspart bleiben.

Der nächste Winter kann aus Sicht meines Modells nur gut werden, wenn wir beides schaffen: Eine wirkungsvolle Impfpflicht UND ein smarte Pandemie-Steuerung. Wenn eines der beiden fehlt, sind wir spätestens nächstes Jahr im Winter wieder an der gleichen Stelle wie jetzt. Ja, das will keiner hören, aber wie sonst werden wir es vermeiden?

Schlusswort: Alle diese Überlegungen beinhalten nicht das Worst-Case-Szenario: Das Aufkommen einer Mutante, die die Impfstoffe effektiv umgehen kann.

Annahmen, Eingangsdaten

Weitere Annahmen/Informationen:

  • Alle Berechnungen wurden mit Version 25 meines Modells erstellt.
  • Bis Jahresende wird eine Zweit-Impfrate von 70% angenommen (Impfraten s.u.).
  • Ein Nachlassen der Impfwirkung (-10 Prozent-Punkte pro 10 Wochen, d.h. von 84% Schutz gegen Infektion kurz nach der 2. Impfung auf 74% 10 Wochen später, für 30 Wochen)
  • Neue Mutanten wie z.B. AY.4.2. (10% höhere Ansteckungsrate) wurden nicht berücksichtigt
  • Bremsende Ferienwirkungen der Herbst- und Weihnachtsferien sind eingerechnet
  • Eine Beschreibung einer älteren Version des Modells gibt es hier, das muss ich mal aktualisieren.
  • Dass sich die Case-Fatality-Rates deutlich erhöhen bei Überlastung des Gesundheits-Systems wird nicht berücksichtigt.
  • Ausgang der Welle wird nicht modelliert, R Wert bleibt unten bis Frühjahr

Die verwendete Impfrate und deren Wirkung:

Es folgen einige Charts, die zeigen, dass mein Modell mit den vom RKI zur Verfügung gestellten Zahlen gut zusammenpasst:

Zum Schluss noch das Szenario A3 in Bildern:

Author: Dirk Paessler

CEO Carbon Drawdown Initiative -- VP Negative Emissions Platform -- Founder and Chairman Paessler AG